

FORTB I LDUNG
01 / 2017
K I N D E R Ä R Z T E
.
SCHWEIZ
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Funktionelle Obstipation beim Säugling
und Kleinkind
D
ie funktionelle Obstipation ist eine häufige Erkran-
kung im Kindesalter, die uns trotz einfachem Krank-
heitsbild im Arbeitsalltag immer wieder fordern kann.
Wer betroffenen Familien zuhört, weiss, wie belastend
und stigmatisierend die Erkrankung für Kind und Eltern
sein kann, umso wichtiger ist eine einfühlsame Befund-
erhebung und kompetente Beratung. Dieser Artikel soll
auf die
praxisrelevanten Herausforderungen in Diagnos-
tik und Therapie
eingehen, basierend auf den Rome IV-
Kriterien [1] und den Empfehlungen der Europäischen
(ESPGHAN) und Nordamerikanischen Gesellschaft für
Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung (NAS-
PGHAN) [2]. Es wird bewusst auf eine vollständige Ab-
handlung des Themas verzichtet.
Herausforderungen in der Diagnostik
Die funktionelle Obstipation beim Säugling und Kleinkind
ist definiert als unregelmässige und/oder schmerzhafte
Darmentleerung mit hartem und/oder grossvolumigem
Stuhlgang, Rückhaltemanövern und Stuhlinkontinenz
über mindestens 4 Wochen. Ein weiteres Kriterium ist
eine palpable Stuhlwalze im Rektum. Mindestens zwei
der genannten Kriterien müssen erfüllt sein.
Entscheidend für die Entstehung einer funktionel-
len Obstipation ist meistens eine unangenehme oder
schmerzhafte Defäkation, welche zu einem Vermei-
dungsverhalten führt. Rückhaltemanöver führen zu
Stuhlretention, der Stuhlgang wird härter, die Defäka-
tion ist erneut schmerzhaft und der Kreis schliesst sich.
In der Regel kann eine funktionelle Obstipation kli-
nisch diagnostiziert werden.
Der Schlüssel zur Dia-
gnose ist eine gründliche Anamnese und klinische
Untersuchung,
wobei nach Hinweisen für eine zugrun-
deliegende organische Erkrankung gesucht werden
muss. Anamnestisch wichtige Warnzeichen sind ver-
zögerter Mekoniumabgang und Beginn der Beschwer-
den kurz nach der Geburt sowie Fieber, Erbrechen und
blutige Durchfälle als Hinweis für eine Enterocolitis bei
M. Hirschsprung. Um sich ein Bild von der Problema-
tik zu machen, muss nach Stuhlfrequenz, -konsistenz
und -kaliber, Defäkationsschmerzen, aber auch nach
Rückhaltemanövern, welche eher für eine nichtorga-
nische Ursache sprechen, und beim älteren Kind nach
Stuhlschmieren gefragt werden. Im klinischen Unter-
such muss neben den Körpermassen und der Unter-
suchung des Abdomens ein besonderes Augenmerk
auf die perineale Region (tiefes Grübchen, Behaarung,
Asymmetrien) und die Analinspektion (Position korrekt
oder nach ventral verlagert, normale radiäre Fältelung,
Fistel, Analreflex) gelegt werden. Nicht vergessen wer-
den sollte die neurologische Untersuchung der unteren
Extremität (Tonus, Kraft, Sensibilität, Muskeleigenrefle-
xe). Bei fehlenden Warnzeichen sollte auf eine rektal-
digitale Untersuchung verzichtet werden, um eine wei-
tere Traumatisierung des Kindes zu vermeiden. Hin-
weise auf wichtige
Differenzialdiagnosen
wie einen
M. Hirschsprung oder eine anatomische Auffälligkeit
des Anus sowie neurologische Erkrankungen oder allfäl-
lige Medikamentennebenwirkungen ergeben sich aus
dieser Basisuntersuchung. Bei chronischem Verlauf und
längerdauernder Therapie sollte diese ergänzt werden
durch eine einmalige
Blutentnahme
zum Ausschluss
einer Zöliakie, Hypothyreose oder Hyperkalzämie. So-
wohl bei Hinweisen auf eine organische Erkrankung als
auch bei chronischen Verläufen ohne Besserungsten-
denz und Patienten mit schlechter Compliance sollte
ein Spezialist beigezogen werden.
Wichtig ist zudem die Kenntnis der
physiologischen
Stuhlfrequenz
in Abhängigkeit von Alter und Ernäh-
rung. Als Beispiel ist beim vollgestillten Säugling die
Bandbreite gross, eine Frequenz von 12-mal pro Tag bis
1-mal alle 10–14 Tage gilt als normal, sofern das Kind
dabei wohlauf ist. Viele Eltern sind bei ausbleibendem
Stuhlgang überzeugt, dass ihr Kind verstopft ist und
Hilfe braucht, rektale Stimulation mit dem Thermome-
ter oder die Gabe von Glyzerinzäpfchen sind die Folge.
Meist hilft eine adäquate Aufklärung.
Eine weitere wichtige Differenzialdiagnose der Obsti-
pation im Säuglingsalter ist die
Dyschezie.
Dabei han-
delt es sich um eine Koordinationsstörung während
der Defäkation mit fehlender Relaxation der Becken-
bodenmuskulatur und des Anus. Klinisch präsentiert
sich das Kind mit Episoden von Pressen, Weinen und
meist hochrotem Gesicht über mehrere Minuten. Ent-
weder kann es im Anschluss weichen Stuhl absetzen
oder es kommt zu keiner Defäkation. Es fehlen Zeichen
der Obstipation. Eine gute Aufklärung der Eltern über
die Harmlosigkeit der Symptomatik und den spontanen
Reifungsprozess des Kindes sind von zentraler Bedeu-
tung. Rektale Stimuli sollten auch hier unbedingt ver-
mieden werden, da dies zu einer Konditionierung füh-
ren kann. Laxantien sind meist unnötig.
Manchmal präsentiert sich eine schwere Obstipation
auch mit Diarrhoe, bei genauerem Hinsehen entpuppt
sich die Problematik jedoch als
paradoxe Diarrhoe.
Ein
DR. MED.
J. ZEINDLER,
KINDERKLINIK TRIEMLI,
ZÜRICH;
DR. MED. G. MARX,
OSTSCHWEIZER KINDER-
SPITAL, ST. GALLEN UND
KINDERKLINIK TRIEMLI,
ZÜRICH