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FORTB I LDUNG

01 / 2017

K I N D E R Ä R Z T E

.

SCHWEIZ

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Mythen und Fakten in der Säuglings- und

Kleinkinderernährung

G

esunde Ernährung und insbesondere die optimale

Ernährung unserer Kinder ist den allermeisten El-

tern und auch uns Kinderärzten ein zentrales Anliegen.

Ärztliche Beratung zur optimalen Ernährung in Gesund-

heit und Krankheit ist aber nicht immer einfach – ei-

nerseits, weil für viele Fragestellungen keine eindeuti-

ge wissenschaftliche Evidenz besteht, andererseits aber

auch als Evidenz geltende Meinungen sich im Laufe der

Zeit ändern. Aus einem Potpourri von Fragen und My-

then, welche in den kinderärztlichen Praxen auftauchen

können, versucht der Autor, diese kritisch zu diskutieren

und wo vorhanden, die Evidenz aufzuzeigen.

«Kinder, die kein Gemüse essen,

brauchen Vitamintabletten»

Eltern von Kindern, die kaum oder nur sehr selektiv es-

sen, machen sich oft grosse Sorgen, ob das Kind genü-

gend Vitamine erhält, um zu wachsen und sich zu ent-

wickeln. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass

ein Kind, welches kein Gemüse isst, nichts Neues aus-

probieren will und immer das gleiche Essen verlangt,

kaum einen Nährstoff- oder Vitaminmangel entwickeln

wird [1]. Allerdings ist zu beachten, dass in gewissen

Situationen ein spezielles Screening und eine Beurtei-

lung der Vitaminversorgung sinnvoll erscheinen bzw. in-

diziert sind (z. B. frühkindliche Ess- und Fütterstörung,

zusätzliche Grunderkrankung).

«Ein ganzer Kuhmilchschoppen im 1. LJ

ist gefährlich für den Säugling»

Worauf basiert die Empfehlung, im ersten Lebensjahr auf

Kuhmilch als Getränk zu verzichten? Kuhmilch entspricht

in seiner Zusammensetzung, sowohl in Bezug der Mak-

ro- und auch Mikronährstoffe nicht der Muttermilch und

deckt damit die nutritiven Bedürfnisse des Säuglings in

der Phase der alleinigen Milchernährung nicht. Einer der

Hauptgründe, weshalb Kuhmilch als Getränk im ersten

Lebensjahr nicht verabreicht werden soll, ist das Risiko ei-

nes Eisenmangels, da Kuhmilch im Eisengehalt sehr tief

ist. Auch weisen ältere Studien darauf hin, dass es durch

eine Kuhmilchernährung beim jungen Säugling zu mi-

kroskopischen Blutverlusten in der Darmschleimhaut kom-

men könnte [2]. Ebenso weist Kuhmilch und auch ande-

re Tiermilchen einen deutlich höheren Eiweiss- und auch

Mineralstoffgehalt im Vergleich zur Muttermilch auf.

Dies kann zu einer starken molaren Belastung der Nie-

ren führen, was potenziell, z.B. im Rahmen einer febri-

len Erkrankung oder Gastroenteritis, zu einer kritischen

Dehydratation des Säuglings führen kann. Kuhmilch soll

deshalb im ersten Lebensjahr nicht als Getränk gegeben

werden. Die Verwendung kleiner Mengen an Kuhvoll-

milch (bis zu 200 ml/d) zur Zubereitung einer Breimahl-

zeit ist aber ab dem 7.–8. Lebensmonat möglich.

«Nur Kinder in Nebelgebieten

brauchen für 3 anstatt nur

1 Jahr Vitamin-D3-Substitution»

Zur Vitamin-D-Substitution ist in den letzten Jahren sehr

viel diskutiert und debattiert worden. Das BAG emp-

fiehlt in seinem Expertenbericht eine Substitution bei al-

len Säuglingen und Kleinkindern bis zum 3. Geburtstag

mit 400 IU (1. Lebensjahr) resp. 600 IU (ab 2. Lebensjahr).

Hauptquelle für die Vitamin-D-Versorgung ist die Haut,

wo mithilfe des Sonnenlichtes Vitamin D synthetisiert

wird. Dies reicht in den Sommermonaten für die ältere

gesunde Bevölkerung meist aus, da aber gleichzeitig die

Kinderhaut einen effizienten UV-Schutz benötigt und Vi-

tamin D aus der Ernährung den Bedarf nicht zu decken

vermag, wurde die Empfehlung für eine längere Substi-

tution bis zum 3. Geburtstag ausgesprochen [3].

«Übergewichtige Kinder im 1. LJ

werden später adipös»

Der durchschnittliche Gewichtsverlauf eines Säuglings

ist unterschiedlich, je nachdem, ob dieser mit Mutter-

milch oder Formulamilch ernährt wird, wobei ein mit

Muttermilch ernährter Säugling in den ersten Mona-

ten eine etwas grössere Gewichtszunahme zeigt. In den

meisten Studien findet sich die Muttermilchernährung

jedoch als protektiver Faktor für die Entwicklung ei-

ner späteren Adipositas. Im Vergleich zu einer Formula-

ernährung konnte gezeigt werden, dass eine höhere

Proteinzufuhr im ersten Lebensjahr mit einer späteren

Adipositas assoziiert ist, wobei eine höhere Protein­

zufuhr mit einer stärkeren Insulinsekretion und damit

einer Erhöhung des Insulin-like growth factor (IGF)-1

und IGF-binding Protein (IGFB)-1 einhergeht [4].

 Ein weiterer Risikofaktor für eine spätere Adipositas

ist eine zu schnelle Gewichtszunahme von (unterge-

wichtigen) Früh- und Termingeborenen; ein sogenann-

tes zu schnelles «catch-up growth». Insbesondere bei

dieser vulnerablen Säuglingspopulation können durch

einen vorsichtigen Nahrungsaufbau langfristig ungüns-

tige metabolische Komplikationen vermieden werden.

«Säuglinge können im 1. LJ

ohne Bedenken vegan/vegetarisch

ernährt werden»

Alternative Ernährungsformen haben in den letzten Jah-

ren deutlich an Popularität gewonnen. Nebst gesundheit-

lichen Aspekten stehen beim Entscheid zur Ernährung mit

Verzicht auf Fleisch und Fisch (vegetarische Ernährung)

DR. MED.

PASCAL MÜLLER,

ST.GALLEN

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Pascal Müller

Leitender Arzt Ernährungs-

medizin,

Päd. Gastroenterologie FMH,

Ostschweizer Kinderspital,

St.Gallen,

pascal.mueller@kispisg.ch

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Richtig

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