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01 / 2017

FORTB I LDUNG

K I N D E R Ä R Z T E

.

SCHWEIZ

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Frühkindliche Essstörungen –

wann beruhigen, wann intervenieren?

Einleitung

Laut Literatur sind bis zu 25% der Säuglinge und Klein-

kinder zumindest vorübergehend von einer frühkindli-

chen Essstörung betroffen. Eine so hohe Zahl bedeutet,

dass wir es bei vielen dieser Kinder mit leichteren Stö-

rungen zu tun haben, die eher eine Normvariante oder

Entwicklungsbesonderheit darstellen oder ein kindliches

Verhaltensphänomen sind bei verunsicherten Eltern, die

in eine Stress- und Überforderungssituation geraten sind.

verhungert. Wenn Familien klein und isoliert sind und

viele Mahlzeiten nur mit einem Kleinkind und seiner zu

100% auf seine Nahrungsaufnahme fokussierten Mut-

ter stattfinden, ist dies sicher nicht hilfreich.

Entwicklungsaspekte

Jede Entwicklungsstufe in der frühen Kindheit stellt

Kind und Eltern vor neue Herausforderungen

(siehe Ta-

belle 1).

Da das Essen einen zentralen Bestandteil des

Alltags mit kleinen Kindern ausmacht und mehrmals

täglich stattfindet, ist es das ideale Übungsfeld, auf

dem sich Konflikte und Fehlanpassungen an diese Ent-

wicklungsanforderungen zeigen. So kann es zu Miss-

verständnissen über die angemessene Portionsmenge

kommen, Machtkämpfe am Tisch können bereits bei

6 Monate alten Kindern beobachtet werden, Kinder

können seltsame und/oder stereotype Vorlieben entwi-

ckeln, die Abstimmung und Feinfühligkeit beim Füttern

kann in Stresssituationen misslingen. Zu den norma-

len Entwicklungskrisen gehört auch die im zweiten Le-

bensjahr beginnende Angst / Aversion gegen neue Nah-

rungsmittel («food neophobia»).

Unterscheidung zur Pathologie

Die meisten der Familien mit einem «essgestörten» Klein-

kind werden von Unterstützung, Beruhigung, Ermuti-

gung, Informationen über die Essentwicklung und ihre

Varianten und fachlichen Ratschlägen profitieren. Wie

aber unterscheiden wir diese Fälle von den Kindern mit

schweren frühkindlichen Essstörungen, welche fachspe-

zifische Interventionen benötigen? Wenn bei einem Kind

Essprobleme auftauchen, bedeutet dies in der Regel eine

sehr hohe emotionale Belastung der Eltern, insbesondere

der Mütter. Die Eltern stehen unter einem enormen Druck,

haben Angst, fühlen sich verunsichert, schämen sich. Dies

ist unabhängig von der Ursache des Essproblems zu be-

obachten, die Situation kann sich aufschaukeln zwischen

kindlicher Problematik, elterlicher Fehlanpassung und dys-

funktionaler Fütterinteraktion (Symptomtrias nach Hofa-

cker). Wenn man die Anamnese erhebt, werden Eltern

die Essenssituation als sehr belastet und auffällig schil-

dern. Die Kinder selbst sind in der grossen Mehrzahl der

Fälle normalgewichtig, lediglich bei ca. einem Prozent fin-

det sich Untergewicht. Daher wird mit der Erhebung des

Körperstatus nur ein kleiner Teil der interventionsbedürf-

tigen Patienten herausgefiltert werden.

 Die wichtigsten interventionsbedürftigen Störungen

sind: schwere sensorische Nahrungsaversionen, Pro­

DR. MED.

MONIKA STRAUSS

OBERÄRZTIN BEREICH

SÄUGLINGS- UND KLEIN-

KINDPSYCHOSOMATIK

KINDERSPITAL ZÜRICH

...aber Chiara-Chayenne

kriegt auch `ne neue Barbie,

wenn sie Spinat isst!!!

Gesellschaftlicher Hintergrund

Junge Eltern stehen unter hohem Optimierungsdruck,

möchten alles gut und richtig machen, so auch bei der

Ernährung ihrer Kinder. Es gibt eine unübersehbare Fül-

le an Informationen über Ernährung, welche in zuneh-

mend ideologisierter Verpackung vermarktet werden

und zur Verunsicherung über die «richtige» Ernährung

beitragen. Neben diesen modernen Auswüchsen des In-

formationszeitalters behalten jedoch biologische und

archaische Verhaltensmuster ihre Gültigkeit: Unsere un-

reif geborenen Kinder sind vollständig auf ihre Bezugs-

personen angewiesen, da sie in den ersten 2–3 Jahren

nicht in der Lage sind, sich selbst zu ernähren. Wenn ein

Kind nicht richtig isst, aktiviert dies das «Katastrophen-

system» seiner Mutter, die dann alles tut, damit es nicht

Zusätzliche Informationen

zu frühkindlichen Essstörungen finden sich auch in den Richtlinien der Eidgenössischen

Ernährungskommission EEK «Ernährung in den ersten 100 Lebenstagen – von pränatal

bis zum 3. Geburtstag: Ausführlicher Expertenbericht» im Kapitel «5. Entwicklung des Ess-

verhaltens von Säuglingen und Kleinkindern aus entwicklungspädiatrischer und kinder-

psychiatrischer Sicht» unter «5.8 Fehlentwicklungen des frühkindlichen Essverhaltens».

https://www.eek.admin.ch/eek/de/home/pub/ernaehrung-in-den-ersten-1000-lebenstagen-.html

Siehe ausserdem Henkel, C., Jenni, O., Holtz, S. et al. «Essverhalten im frühen Kindesalter»,

erschienen in Monatsschrift Kinderheilkunde (2016) 164:294. DOI:

http://link.springer.com/article/10.1007/s00112-015-0032-4