

01 / 2017
FORTB I LDUNG
K I N D E R Ä R Z T E
.
SCHWEIZ
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Bären beschäftigt und mit den Eigenschaften von Frisch-
käse. Nach ca. einer halben Stunde schleckt er ganz vor-
sichtig und von den Eltern unbeobachtet einen Keks ab
und legt ihn schnell wieder hin. Am Ende der Sitzung
hat er drei neue Nahrungsmittel in seiner Art und seinem
Tempo exploriert, ohne zu würgen. Die Eltern stellen fest,
dass sie durch das Gespräch abgelenkt waren und sich
etwas entspannt haben.
Diagnose:
schwere, bisher unerkannte sensorische
Nahrungsaversion mit Anteilen einer posttraumatischen
Fütterstörung. In der Folge beeinträchtigte Autonomie-
entwicklung beim Essen.
Könnte verwechselt werden mit:
«picky eating», «In-
teraktionsstörung», bei der die Mutter das Kind nicht
von der Brust lassen will.
Therapie:
Die Eltern können die Instruktion sehr gut
umsetzen, Mathis selbst machen zu lassen und Füt-
terversuche mit dem Löffel wegzulassen. Unterstützt
durch logopädische Therapie zur Verminderung der
Hypersensibilität im Mundbereich bessert sich die Sym-
ptomatik rasch, Mathis kann sich verschiedenen Spei-
sen annähern, die er selbstständig essen kann; Un-
terstützt durch Gespräche mit der Kinderpsychiaterin
schafft es die Mutter, ihrem Sohn seinen Hunger zu-
zumuten und das nächtliche Stillen wegzulassen. Da-
durch kommt es zu einer (vorher von uns angekün-
digten) vorübergehenden Gewichtsstagnation, Mathis
kann jedoch bald adäquate Mengen selbstständig es-
sen und sich wieder an seine frühere Gewichtskurve
annähern.
■
Essstörung
Hauptmerkmal
Gewicht
Behandlung
Sensorische Nahrungs
aversion (häufigste
Störung)
Würgen, Erbrechen, Überforderung bei der Einführung neuer
Speisen; aversive Reaktion auf bestimmte Konsistenzen,
Geschmäcker, Gerüche.
Meist normal, oft Fehlernährungen Rechtzeitig (am besten so früh wie möglich,
sicher vor 20. LM) logopädisch, eventuell inter-
disziplinär.
Posttraumatische
Essstörung
Plötzliches Einsetzen bei vorher normaler Essentwicklung, nach
Trauma/Überforderung. Panische Reaktion und Abwehr bereits bei
Ansicht des Schoppens/des Löffels.
(Drohendes) Untergewicht
Trigger müssen vermieden werden; interdiszipli-
näre Behandlung (Psychiatrie, Logopädie,
Ernährungsberatung).
Infantile Anorexie
Kind zeigt kaum Interesse am Essen und hat nicht genügend
Appetit, um ausreichende Mengen freiwillig zu sich zu nehmen.
Oft erbitterter Machtkampf.
Untergewicht
Meist Säuglings-Eltern-Psychotherapie erfor
derlich. Zusätzlich Beratung durch erfahrene
Ernährungsberaterin.
Störung der Eltern-
Säuglingsreziprozität
Eltern können Signale des Kindes nicht lesen/ interpretieren z.B.
Hungersignale fälschlich als Aggression; oft psychische Erkrankung
der Eltern oder Sucht.
Bedrohliches Untergewicht
Achtung, Kinderschutz! Kommen meist notfall-
mässig ins Spital. Das Überleben, v.a. von Säug-
lingen ist bedroht. Müssen oft platziert werden.
Frühe Essstörung im
Zusammenhang mit
einer bestehenden medi-
zinischen Erkrankung
Bedingt durch medizinische Erkrankung ist Kind zu schwach
(z.B. bei kardiologischen Erkrankungen) oder darf aufgrund medi
zinischer Interventionen nicht oral ernährt werden.
Meist drohendes Untergewicht,
oft Sondierung notwendig
Immer Ernährungsberatung während Sonden-
phase; nach Wegfall der medizinischen Ursachen
oft logopädische Unterstützung notwendig,
da Übungsdefizit.
Frühe Essstörung mit
Beeinträchtigung
der homöostatischen
Regulation
Beginnt im Neugeborenenalter; Kind kann Zustand von ruhiger auf-
merksamer Wachheit zu wenig halten, um adäquat zu trinken.
Manchmal Gedeihstörung
Oft reicht Beratung/Unterstützung, damit Eltern
ihrem Kind helfen, sich adäquat zu regulieren.
Störung der oromoto
rischen Entwicklung
Je nach Entwicklung kann Kind motorische Anforderung nicht erfül-
len: bei Säuglingen motorisch bedingte Trinkschwäche (kann nicht
saugen oder nicht koordinieren), später Probleme der Kaumotorik
oder des Transports der Nahrung im Mund. Teilweise extrem auffällig
anmutende Interaktion (z.B. Verabreichung von Brei mit der Spritze).
Bei grösseren Kindern meist normal,
bei Säuglingen mit motorisch
bedingter Trinkschwäche Sondierung
erforderlich.
Logopädische Therapie.
Essstörung bei allge
meinen Entwicklungs-
auffälligkeiten
Das Essverhalten entspricht nicht dem chronologischen Alter,
da das Kind insgesamt z.B. in seiner motorischen Entwicklung
beeinträchtigt ist. Probleme entstehen, wenn Eltern z.B. von ihrem
Kind, das noch nicht sitzen kann, erwarten, dass es vom Löffel isst.
Meist normal
Entwicklungspädiatrische Beratung, heil
pädagogische Früherziehung, Logopädie.
Emotionale Störung mit
Nahrungsvermeidung
Das Essverhalten ist im Rahmen einer emotionalen Problematik
gestört. Die Kinder wirken nicht nur beim Essen verstört, dissoziieren,
zeigen Symptome von Angst, Depression oder Aggression. In der
Regel Auftreten i.R. einer familiären Problematik, oft mit einem
psychisch kranken Elternteil.
Manchmal, nicht immer,
untergewichtig
Behandlung durch psychiatrische/psycholo-
gische Fachperson im Frühbereich; grosszügige
Indikation zu stationärer Beobachtung.
Tabelle 2: Frühkindliche Essstörungen.