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FORTB I LDUNG

01 / 2017

K I N D E R Ä R Z T E

.

SCHWEIZ

18

Evidenz medizinischer Massnahmen

bei Säuglingskoliken

Einleitung

Alle Babies schreien!

 Bekommen sie aber, was sie benötigen, so beruhigen

sie sich schnell wieder. Einige Säuglinge jedoch schreien

und weinen ununterbrochen. Häufig führt dies bei El-

tern und Umfeld zu einer sehr grossen Frustration, denn

nichts scheint wirklich zu helfen. Weder das Herumtra-

gen, spazieren, beruhigende Worte oder kuscheln noch

medikamentöse Massnahmen, Homöopathie, Wechsel

der Nahrungsmittel oder aber auch sogar Autofahren

scheinen die Lösung zu sein.

 Was können Pflegende, Mütter- und Väterberatung

oder auch Ärzte tun, um diesen Familien und Kindern

zu helfen? Welche diagnostischen und therapeutischen

Mittel sind sinnvoll? Wo gibt es Evidenz und was sind

nur Mythen? Auf diese Punkte soll hier im Folgenden

eingegangen werden.

Definition und Diagnostik

8–23% aller Säuglinge sind von Säuglingskoliken be-

troffen. Das Risiko für eine elterliche Erschöpfung in die-

ser schwierigen Situation ist deutlich erhöht und laut

Statistik denken ca. 6 von 23 Müttern an eine Kinds­

tötung während dieser langen Schreiphasen. Um die

Diagnose zu stellen, müssen die Symptome an mehr

als 3 Tagen pro Woche mindestens 3 Wochen lang auf-

treten. Jedes einzelne Ereignis dauert dabei länger als

2–3 Stunden. Es handelt sich hierbei um die sogenannte

Dreierregel, welche bisher bei der Definition der Säug-

lingskoliken Anwendung fand. Seit 2016 die Rome IV

Kriterien eingeführt worden sind, sind die Säuglingsko-

liken ein wenig anders definiert, nämlich als episodische

oder kontinuierliche Bauchschmerzen und Schreiepi-

soden ohne organische Ursache bei Kindern im Alter

von <5 Monaten. Die Koliken treten häufig am frühen

Abend auf, die Kinder ziehen während der Schreiphase

typischerweise die Beine an, verfärben sich oft rot und

lassen evtl. auch Wind ab. Oft ist es so, dass sämtliche

Massnahmen, welche die Eltern unternehmen, um das

Kind zu trösten, erfolglos sind. Zwischen den einzel-

nen Kolikphasen sind die Kinder beschwerdefrei. Auch

zeigen sie oft Regulationsstörungen, indem der Schlaf-

wach-Rhythmus verfälscht ist.

Ursachen

Die Ursachen der Säuglingskoliken sind nicht geklärt. Die

ungeeignete Ernährung der Mutter, Nahrungsmittelun-

verträglichkeiten, gastrooesophageale Refluxprobleme,

schlechte Trinktechnik beim Füttern, das Verschlucken

von Luft (Aerophagie) und die chronisch funktionelle

Stuhlentleerungsstörung des Säuglingsalters (Dyschezie)

werden immer wieder mit den Säuglingskoliken in Zu-

sammenhang gebracht. Die sogenannte Dysbiose, die ei-

ner Unreife der Magen-Darm-Flora entspricht, sowie auch

die Unreife der Nerven- und Muskelzellen im Magen-

Darm-Trakt werden als pathophysiologische Mechanis-

men zur Entstehung der Koliken erwähnt und spielen

in der Pathophysiologie eine immer bedeutendere Rolle.

Aber auch psychosomatische Faktoren wie Interaktions-

probleme zwischen Eltern und Kind werden gehäuft

bei Säuglingskoliken beobachtet. Es stellt sich aber hier

auch die Frage, inwiefern die Interaktionsproblematik

sekundär aufgrund der Säuglingskoliken entstanden ist.

Aufgrund dieser grossen Breite der Entstehungsmecha-

nismen ist es nicht verwunderlich, dass auch die thera-

peutischen Optionen sehr unterschiedlich gehandhabt

werden.

Therapeutische Optionen

Allgemeine Massnahmen

1. Beruhigung des Kindes

Prinzipiell sollen die Eltern primär versuchen, bei Schrei-

anfällen die Ruhe zu bewahren und auf die Bedürfnis-

se des Kindes einzugehen. Manchmal lassen sich Babys

beruhigen, indem man die Position wechselt oder den

Bauch streichelt/massiert. Dies kann zu einer Linderung

der Kolik führen.

 Durch diese Massnahme wird die Beziehung zwi-

schen Kind und Eltern durch den Hautkontakt opti-

miert. Ein körperwarmes Bad kann für die Säuglinge

ebenfalls beruhigend sein, aber auch rhythmische und

sanfte Musik, das Wiegen eines Kindes oder je nach

Kultur andere beruhigende Massnahmen.

DR. MED.

GEORGE MARX,

SANKT GALLEN

Korrespondenzadresse

Dr. med. George Marx,

Leitender Arzt Gastro-

enterologie und Ernährung,

Ostschweizer Kinderspital,

9006 St.Gallen

Das Risiko für eine elterliche Erschöpfung in

dieser schwierigen Situation ist deutlich erhöht

und laut Statistik denken ca. 6 von 23 Müttern

an eine Kindstötung während dieser langen

Schreiphasen.