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Pro senectute Kanton luzern 1 | 18
heimatgefühle
Von simone gretler heusser
«Heimat» hat in der Schweiz meiner Meinung nach oft
einen hinterwäldlerischen Beigeschmack. Wer Heimat
hochhält, macht sich schnell etwas suspekt. Zwar wissen
die einen oder anderen, dass das «Heimweh», die
Sehnsucht nach der Heimat, bevorzugt jene jungen
Menschen zu befallen pflegte, welche aus den Schweizer
Alpen kommend ein Auskommen im Ausland suchten,
suchen mussten und etwa auf den grossen Farmbetrie-
ben der USA als Melker arbeiteten.
Das Heimweh als «Schweizer Krankheit» – so beschrieb
es erstmals Johannes Hofer, ein Arzt aus dem Elsass Ende
des siebzehnten Jahrhunderts in seiner Dissertation über
«nostalgia oder heimwehe». Ob die Ursache eher in der
fremden Kost oder den anderen Sitten zu suchen sei,
konnte er nicht herausfinden. 1718 berichtete der Zürcher
Arzt Johann J. Scheuchzer über Schweizer Söldner, welche
bei den Klängen des «Kuhreihens», dem Jodel für das Vieh
auf der Alp, an Heimweh erkrankten oder gleich deser-
tierten. Und noch 2002 sei die Hitsingle «Heimweh» der
Band Plüsch bei den Swisscoy-Truppen im Kosovo pau-
senlos gespielt worden.
Über 300 Jahre nach der «Erfindung» des Heimwehs
als Schweizer Krankheit singen die «Plüschs» ganz ähnlich
wie der Kuhreihen-Jodel vom heilen Leben in der (Schwei-
zer) Bergwelt. Und obwohl von dieser Sehnsucht nach
dem Leben in den Bergen durchaus auch Outdoor-
Ausstatter in der Stadt profitieren, ist das Bedürfnis nach
Heimat gerade in urbanen, progressiven Milieus etwas
schambehaftet. Dabei finde ich, Heimat ist ein Gefühl,
welches einem helfen kann, sich selber in den Raum und
in die Gesellschaft zu stellen. Wo stehe ich? Was bin ich?
Wo ist mein Platz?
Viele Menschen finden es schwierig, den Sinn ihres
Lebens zu spüren. Es geht die Rede, «früher» sei das besser
gewesen: Man lebte ein Leben lang am gleichen Ort, übte
das ganze Leben lang den gleichen Beruf aus, verheiratete
sich nur einmal, und man zog vielleicht einmal im Leben
um – wenn man das Elternhaus verliess – und nicht wie
heute mindestens alle fünf Jahre. Heute leben wir nah
aufeinander, aber oft allein. Was uns mit unseren Nach-
barn verbindet, sind der gemeinsame Hauseingang und
das geteilte Abflussrohr. Sonst aber sind alle in ihren
Zellen autonom. Wir leben in einer Zeit, wo wir im täg-
lichen Leben nicht mehr aufeinander angewiesen sind.
Für alles gibt es professionelle Dienste.
lebensfragen selber beantworten
Wie immer auch das zu Zeiten des Kuhreihens genau war
– bestimmt ist heute die Norm «breiter» geworden. Die
Lebensläufe und -verläufe der Menschen unterscheiden
sich heute viel stärker als früher. Die Prozesse der Indivi-
dualisierung (die Biografien der Menschen unterscheiden
sich stärker), der Konnektivität (alles hat mit allem zu tun
und ist miteinander verbunden), Mobilität (Menschen
und Güter sind heute viel mobiler, dank neuer Transport-
und Übermittlungsmöglichkeiten) und alle anderen soge-
nannten «Megatrends» stellen heute an jeden einzelnen
Menschen die Anforderung, quasi alle grossen Lebens-
fragen, so auch die nach dem Sinn des Lebens, selber für
sich zu beantworten. Das ist eine Arbeit, welche zwar viel
Freiheit und Spielraum zulässt, aber eben auch eine harte
Arbeit darstellt.
Eine selbstverständliche, nicht hinterfragbare Heimat
erscheint da als Ressource. So vieles im Leben ist unsicher
und ungewiss, da mag es tröstlich sein, wenn ich wenigs-
tens genau weiss, woher ich komme, wo meine Heimat ist.
«Heimat ist ein Gefühl
und wohnt in uns allen»
Was bedeutet Heimat? Für alle das Gleiche oder für jede und jeden etwas ganz anderes?
Verändert sich die Bedeutung von Heimat im Verlaufe des Lebens? Oder gilt – einmal
Heimat, immer Heimat?
simone gretler heusse
r arbeitet an
der hochschule luzern – soziale
arbeit mit dem schwerpunkt alter.
sie verantwortet das Kompetenz-
zentrum generationen und
gesellschaft. sie hat ethnologie,
soziologie und staatsrecht studiert
und einen master in Public health.
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