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Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 17

GENERATIONENSOLIDARITÄT

Zenit:

Was bedeutet die Solidarität zwischen den

Generationen für den einzelnen Menschen, für die

Gesellschaft?

Pasqualina Perrig-Chiello:

Solidarität trägt zum Wohl-

befinden und Wohlergehen bei. Ohne Solidarität, ohne die

gegenseitige Unterstützung hätte die Menschheit nicht

überleben können. Angesichts der vielen Veränderungen

in Familie und Gesellschaft ist die Solidarität existenzieller

denn je. Wenn die Solidarität in der Familie nicht lebt,

funktioniert auch das grosse System der Gesellschaft nicht.

Wie erfahren Sie die Solidarität zwischen den

Generationen in Ihrem persönlichen Umfeld?

Ich sehe viel Freude und Investment, vermutlich mehr

denn je, da die Familien kleiner geworden sind und es we-

niger Bezugspersonen gibt: Grosseltern, die ihre Enkelkin-

der betreuen, Frauen und zunehmend auch Männer, die

ihre alten Eltern betreuen. Ich beobachte jedoch auch viel

Mühe: Man gibt sich Mühe und hat Mühe. Die Gesellschaft

sieht die Familie als reine Privatangelegenheit und verlangt

sehr viel von ihr. Dies bringt die Familien mehr und mehr

an ihre Grenzen. Während die Solidarität in der Familie

spielt, sehe ich auf gesellschaftlicher Ebene eher ein Neben-

einander der Generationen. Man weiss wenig voneinander,

jede Generation ist mit ihren eigenen, komplexer geworde-

nen Fragen befasst. Es beunruhigt mich stark, dass auf der

gesellschaftlichen Ebene die Generationen gegeneinander

ausgespielt werden etwa gemäss dem Slogan: «Die Alten

leben zunehmend auf Kosten der Jungen.»

So stimmt diese viel gehörte Behauptung gar nicht?

Es ist eine einseitige Aussage, die nur aufs Rentensystem

fokussiert. Dieses ist wohl ein grosses Problem und wird

sich noch zuspitzen. Das darf nicht schöngeredet werden.

Doch es gibt noch andere Fakten. So werden die familia-

len Leistungen der Grosseltern und der pflegenden Ange-

«Die Solidarität zwischen den Generationen funktioniert mehr denn je. Aufgrund

der gesellschaftlichen Veränderungen gelangt sie jedoch an ihre Grenzen. Der

Generationenkitt ist brüchig geworden, die Familien brauchen dringend mehr Unterstüt-

zung. Das fordert Pasqualina Perrig-Chiello, Honorarprofessorin der Universität Bern.

«Der Bogen darf nicht

überspannt werden»

hörigen nicht berücksichtigt. Im Generationenbericht

2008 sind die freiwilligen Leistungen der Grosseltern mit

10 Mrd. Franken, jene der pflegenden Angehörigen mit

10 bis 12 Mrd. ausgewiesen. Heute sind diese Zahlen be-

stimmt noch höher. Zudem haben wir im Sozialbericht

2016 nachgewiesen, dass heute alte Menschen am meisten

von Armut betroffen sind. Der Diskurs ist nicht nur ein-

seitig, sondern falsch, weil gewisse soziale Probleme als

Generationenprobleme verkauft werden.

Was meinen Sie damit?

Man darf der Familie ganz einfach nicht alle Aufgaben zu-

schieben. Frauen können nicht gleichzeitig Enkelkinder

hüten, Angehörige pflegen und berufstätig sein. Zudem

hat familiale Solidarität auch ihren Preis. Wenn Frauen

unentgeltlich Care-Arbeit leisten, können sie nicht in die

eigene soziale Sicherheit investieren, und den Sozialwer-

ken gehen Einnahmen verloren. So ist die Armut im Alter

bei vielen Frauen vorprogrammiert, für die wieder der

Staat aufkommen muss. Diese Opportunitätskosten

müssten unbedingt vermehrt thematisiert werden.

Sie fordern, dass die Gesellschaft mehr in die Familien

als kleinste Zelle des Staates investieren müsse.

Unbedingt. Angesichts der gesellschaftlichen Veränderun-

gen wie Mobilität, dauernde Erreichbarkeit usw. sind die

Anforderungen an die Familie höher und komplexer ge-

worden. Gleichzeitig sind die Ansprüche an die Erziehung

der Kinder gewachsen: Nur das Beste ist gut genug. Dem-

gegenüber werden von der Gesellschaft immer höhere

Erwartungen an die Familie, die als Privatsache gilt,

gestellt. Es ist beschämend, dass die Schweiz gemessen am

Bruttosozialprodukt weniger für die Familien ausgibt als

die meisten europäischen Länder. Das zeigt, welch geringe

Bedeutung die Familie für den Staat hat. Das kann nicht

aufgehen. Der Bogen darf nicht überspannt werden.