Zenit Nr. 1. März 2024

Beinahe täglich sind wir mit Übergängen konfrontiert. Wieso ist es schwierig, darüber zu sprechen? Haben diese sogar Auswirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander? Übergänge gibt es viele und genauso viele Arten, damit umzugehen, sagt der Pflegefachmann, Gerontologe und Autor André Winter im Interview. INTERVIEW ESTHER PETER Tagtäglich erleben wir Übergänge. Es ist aber ein sehr allgemeiner Begriff. Was kommt Ihnen spontan dazu in den Sinn? Adrian Winter: Wir selbst sind «Übergänger», «Vorüber-Gänger». Geborenwerden und Sterben sind sicher die grössten Übergänge. Aber natürlich kommen mir noch viele andere in den Sinn. Um nur ein paar zu nennen: vom Daheim ins Heim, von der Ungewissheit zur Gewissheit z. B. bei einer Diagnose. Oder beim Erkennen einer demenziellen Erkrankung bis zum Punkt, an dem man vergisst, dass man vergisst. Wenn man Angehörige und sich selbst vergisst. Oder verlassen und verlassen werden – immer wieder finden wir uns vor einer Tür wieder, hinter der uns eine angstmachende Veränderung erwartet. Wir wissen nicht, wie lange wir für das Ankommen im Neuen und Unbekannten brauchen. Altern respektive Übergänge sind Prozesse, die uns alle das ganze Leben lang begleiten. Insbesondere für ältere Personen sind diese nicht immer einfach. Es sind oft letzte Lebensabschnitte. Welche Auswirkungen hat dies auf die Psyche? Die wohl häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter sind Depressionen und die Auswirkungen, welche eine demenzielle Entwicklung auf die Wahrnehmung, das Erleben und Verhalten der Betroffenen hat. Angststörungen und der Missbrauch von Alkohol und Medikamenten können zu Problemen führen. Man spricht in der Altersmedizin auch von den geriatrischen «I» (da alle Syndrome mit einem «I» beginnen): Immobilität, Inkon- tinenz, Instabilität, Intellektueller Abbau, Insomnie, Isolation, Immundefekte, Impotenz und Iatrogene Schädigungen (ärztliche Kunstfehler) haben alle einen grossen Einfluss auf unser psychisches Befinden. 10 Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 24 Foto: Adobe Sock «Übergänge begleiten uns ein Leben lang» Haben Übergänge auch gesellschaftliche Auswirkungen? Welche? Übergänge gibt es viele und wohl genauso viele Arten und Weisen, damit umzugehen. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson spricht in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung von Krisen, also von Übergängen, die es zu bewältigen gilt. Auf der letzten Stufe geht es darum, auf sein Leben zurückzublicken und anzunehmen, was war, weil es nun nicht mehr zu ändern ist. Gelingt dies, kann der Mensch Weisheit erlangen und dem Tod ohne Angst entgegenblicken. Gelingt dieser Übergang nicht, führt dies oft in Verzweiflung. Als Pflegefachperson weiss ich, dass man dann meist auch anders stirbt. Weil jede und jeder Einzelne ein «Baustein» unserer Gesellschaft ist, hat es also durchaus gesellschaftliche Relevanz, wie jede und jeder gelernt hat, mit Krisen, sprich Übergängen umzu- gehen. Einer der schwierigsten Übergänge ist, wie Sie sagen, jener des Sterbeprozesses. Doch dies ist bei vielen ein Tabuthema – darüber wird selten oder nie gespro- chen. Wieso? Ist nicht alles ein Tabuthema, was uns Angst macht? Die Psychotherapeutin Monika Renz spricht im Zusammenhang mit dem Sterbeprozess von einem Ich-Tod, der wohl schwierigste, oft auch angstbehaftete Übergang für die meisten von uns. Alles Ich-hafte, sagt sie, alles, was ich war, was mich ausmachte, löst sich auf. Alles, was ich fühlte, musste, dachte, wollte, verschwindet für immer. Aber nicht nur das Ich geht unwiderruflich verloren, sondern auch alles und alle, die an dieses Ich gebunden und mit diesem Ich verbunden waren. Alles, was mein war: Meine «Mein-ung» ebenso wie meine «Ge-mein-schaft». Können Übergänge im Alter auch positiv gestaltet werden?

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