KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 01 / 2024 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 26 ■ 6,3% für Computerspielsucht (Mädchen 4,1%, Jungen 7,6%). Die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen war häufiger betroffen als die der 10- bis 13-Jährigen. Bei den sozialen Medien wurden entsprechende Kriterien für eine riskante (problematische) Nutzung in 16,4%, die für eine pathologische Nutzung in 6,3% erfüllt. Riskante und pathologische Nutzung sozialer Medien waren bei Mädchen und Jungen etwa gleich häufig (DAK-Studie, 2023). Eine schweizerische Umfrage vor der Pandemie ergab eine Prävalenz von 11,2% für «problematisches Onlineverhalten» unter den 15- bis 24-Jährigen (Hermann et al. 2020). Risikogruppen und Komorbidität Viele Internetangebote, vor allem Computerspiele, zielen direkt auf das Belohnungssystem. Daher finden sich bei den von Internetsucht Betroffenen oft Komorbiditäten mit anderen Suchterkrankungen (Cannabis, Nikotin, Alkohol) oder Störungen, bei denen das Belohnungssystem verändert ist, und bzw. oder mit Beeinträchtigung der Impulskontrolle, wie bei dissozialen Verhaltensstörungen oder bei ADHS (Werling et al. 2021). Manche Studien finden bei bis zu 80% der Jugendlichen mit Computerspielsucht auch ADHS-Symptome. Weiterhin kommen depressive Symptome und Angststörungen, vor allem soziale Ängste vor (vgl. Paschke et al. 2020, Fuchs et al. 2018). Es wird auch eine Überschneidung mit Zwangsstörungen angenommen, was sich zum Beispiel im zwanghaften Ansammeln von Informationen oder Dateien zeigen kann (Fineberg et al. 2022), aber meist erst ab dem jungen Erwachsenenalter auftritt. Die Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und problematischer/pathologischer Internetnutzung sind komplex, das heisst vorbestehende psychische Probleme können durch Internetnutzung je nach Situation verstärkt oder teilweise bzw. vorübergehend kompensiert werden. Für einen selbstunsicheren Jugendlichen ist es im Netz möglich, sich hinter einer konstruierten, für ihn idealen Identität zu verstecken. Jugendliche, die Schwierigkeiten mit sozialen Beziehungen in der analogen Welt haben, zum Beispiel mit Autismus-Spektrum-Störung oder sozialer Angststörung, fühlen sich möglicherweise sicher(er) bei Online-Kontakten, was zu positiven Erfahrungen führen, im ungünstigen Fall aber ein Vermeidungsverhalten realer Kontakte verstärken kann. Auch vorbestehende Essstörungen wie Anorexie können durch Vergleiche in den sozialen Medien oder Besuch von dysfunktionalen Foren verstärkt werden. Es können psychische Probleme sogar neu entstehen, wie zum Beispiel Depression oder Suizidalität als Folge von Cybermobbing (vgl. Popow et al. 2018). Geringer Selbstwert, unzureichende Strategien zur Bewältigung von Problemen, ProkrastinationsKasten 2: ICD-11 Kriterien für Computerspielsucht und risikoreiches Computerspielen Computerspielsucht («Gaming Disorder») Riskantes Computerspielen («Hazardous Gaming») Merkmale 1. Kontrollverlust (Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer, Beendigung, Kontext des Spielens) 2. Zunehmende Priorisierung des Spielens vor anderen Lebensinhalten und Alltagsaktivitäten 3. Fortsetzung oder Steigerung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen Das Verhaltensmuster ■ ist kontinuierlich oder episodisch und wiederkehrend ■ führt zu ausgeprägtem Leidensdruck oder erheblichen Einschränkungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen ■ muss zur Diagnosestellung über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten zu beobachten sein (bei schwerwiegenden Symptomen auch kürzer) ■ Das Spielverhalten erhöht das Risiko schädlicher physischer oder psychischer Gesundheitsfolgen für sich oder andere. ■ Ein erhöhtes Risiko kann entstehen durch • Häufigkeit des Spielens • Nutzungsdauer • Vernachlässigung anderer Aktivitäten und Prioritäten • risikoreiche Verhaltensweisen, die mit dem Spielen oder dessen Umfeld assoziiert sind • negative Folgen des Spielens • oder durch eine Kombination dieser Faktoren ■ Beibehalten des Spielverhaltens, obwohl man sich der Risiken bewusst ist. Die Kategorie kann verwendet werden, wenn das Verhalten die Aufmerksamkeit oder Beratung durch Fachpersonen erfordert, die diagnostischen Anforderungen für eine Computerspielsucht aber nicht erfüllt sind. Experten empfehlen, sich auch zur Diagnostik von anderen internetbezogenen Störungen an den Kriterien der ICD-11 «Computerspielsucht» und des «riskanten Computerspielens» zu orientieren (z. B. Paschke et al. 2022) und zwischen pathologischer und riskanter (oder «problematischer») Nutzung zu unterscheiden. Riskante (oder problematische) Nutzung würde dann eine weniger schwere Form oder eine Vorstufe bezeichnen. Im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage) sind die Kriterien für eine Computerspielstörung («Internet Gaming Disorder») strenger als in der ICD-11 und umfassen folgende Merkmale, die an substanzgebundene Suchtstörungen orientiert sind: 1. übermässige Beschäftigung, 2. Entzugssymptomatik, 3. Toleranzentwicklung, 4. Kontrollverlust, 5. Interessenverlust, 6. Fortsetzen trotz negativer Konsequenzen, 7. Täuschungsversuche, 8. Nutzung als Flucht und zur Stimmungsaufhellung, 9. Verlust oder Gefährdung sozialer Beziehungen und beruflicher/schulischer Funktionalität. Zur Diagnosestellung sollten mindestens fünf Kriterien in den letzten 12 Monaten erfüllt worden sein. Häufigkeit von riskanter oder pathologischer Internetnutzung bei Kindern und Jugendlichen Am häufigsten findet sich problematischer Internetgebrauch in asiatischen Ländern, mit einer Prävalenz für pathologisches/riskantes Computerspielen von bis zu 50%. In Europa sind die Zahlen niedriger, haben aber in den letzten Jahren stetig zugenommen, noch verstärkt durch die Pandemie. Eine aktuelle repräsentative Studie aus Deutschland berichtet bei den 10- bis 17-Jährigen von einer Prävalenz von: ■ 11,8% für riskantes (problematisches) Computerspielen (davon 68% männlich) (gekürzt, Wortlaut modifiziert) Illustration: Moritz Kessler

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