KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

01 / 2024 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 27 neigung, geringe Familienfunktionalität und niedriger sozio-ökonomischer oder Bildungsstatus sind weitere Risikofaktoren für die Entwicklung von internetbezogenen Störungen (vgl. Paschke et al. 2020) (siehe Kasten 3). Pathologische Internetnutzung kann auch zu körperlichen Folgeproblemen wie Schlaf- und Bewegungsmangel, Augenproblemen, Fehlernährung bzw. Adipositas führen, wobei Adipositas zugleich einen Risikofaktor zur Entwicklung von exzessiver Onlineaktivität darstellt (Siegfried & Siegfried, 2015). Diagnostik und Therapie Bei der Diagnostik lassen sich Fragebogenverfahren nutzen – meist noch überwiegend an DSM-5 Kriterien orientiert – entweder für eine allgemeine «Internetnutzungsstörung» (z. B. Compulsive Internet Use Scale (CIUS); Wartberg et al 2014; Validierung für Kinder vgl. Jusiene et al. 2023) oder für spezifische Nutzungsstörungen wie Computerspielstörung (z. B. Computerspielabhängigkeitsskala (CSAS); Rehbein et al. 2011; Internet Gaming Disorder Scale – Short Form (IGDS9-SF); für Internetstörungen ein halbstrukturiertes klinisches Interview auf Deutsch zur Verfügung (AICA-SKI:IBS; Müller & Wölfling, 2017). Eltern und Jugendliche finden online verschiedene Selbsttests, die eine erste Abschätzung des Risikos ermöglichen (z. B. https://suchtpraevention-zh.ch/selbsttests-freundetests/selbsttests/). Auch lässt sich ein Gespräch mit Kindern und Jugendlichen über die in Kasten 4 aufgeführten Einstiegsfragen beginnen, um sich einen Überblick über ihr Medienverhalten zu verschaffen (weitere hilfreiche Links finden Sie auf Seiten 30–31). Bei den Interventionen unterscheidet man zwischen Informationsvermittlung/Beratung und Therapie im engeren Sinne. Beratung/Psychoedukation für die ganze Familie ist besonders zur Frühintervention geeignet, solange problematische Nutzungsweisen noch nicht pathologisch sind. Beim Vorliegen von pathologischer Nutzung können Psychotherapie, vor allem Verhaltenstherapie, durch spezialisierte Fachpersonen sowie medikamentöse Therapie zum Einsatz kommen; Letzteres nur zur Behandlung der oft komorbid vorhandenen Störungen. Darüber hinaus gibt es Ansätze zur Behandlung mit stationären Programmen, mit denen die – vor allem von Computerspielsucht-Betroffenen wieder an eine geregelte Tagesstruktur und an alternative Freizeit- und Alltagsaktivitäten herangeführt werden und angemessenere Strategien zu Problembewältigung einüben. Therapie scheint wirksam zu sein, allerdings sollte die Evidenzbasierung für die verschiedenen Therapieprogramme noch verbessert werden (Danielsen et al. 2024). Empfehlungen zur Bildschirmmediennutzung von Kindern und Jugendlichen Die meisten Internetaktivitäten ermöglichen eine interaktive Teilnahme und Feedback. Darauf sprechen Kinder und Jugendliche besonders stark an. In der Schweiz spielen 47% der 4- bis 6-Jährigen einmal bis mehrmals pro Woche Videospiele (Bernath et al. 2020). 20% der 6- bis 7-jährigen Kinder aus der Schweiz verfügen über ein eigenes Handy (Suter et al. 2023); bei den 12- bis 19-jährigen Schüler:innen (alle Schultypen, inklusive Berufsschule) sind es 100% (Külling et al. 2022). Nach Selbstangaben der Schweizerischen Jugendlichen beträgt die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer 3 Stunden und 48 Minuten an Wochentagen bzw. 5 Stunden und 13 Minuten am Wochenende, wobei Jungen häufiger gamen, Mädchen mehr Zeit in sozialen Medien verbringen. Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status oder mit Migrationshintergrund geben im Vergleich höhere durchschnittliche Nutzungszeiten an. Während der Pandemie bzw. Lockdown gab es einen deutlichen Anstieg, danach wieder einen leichten Rückgang der Nutzungszeiten (Külling et al. 2022); Kasten 3: Risikofaktoren für Mediensucht Risikofaktoren ■ andere Suchterkrankung (z.B. Alkoholabhängigkeit) ■ psychische Störungen (z.B. ADHS, Depression, Angststörung, Emotionsregulationsstörungen, Autismus-Spektrum-Störung) ■ geringes Selbstwertgefühl ■ Schul- oder Leistungsangst ■ ungünstige Verarbeitung von Problemen, mangelhafte Problemlösestrategien, Eskapismus ■ Neigung zu Prokrastination ■ wenige/fehlende «analoge» soziale Kontakte, Kontaktschwierigkeiten ■ junges Alter bei Beginn des Medienkonsums ■ Vernachlässigung durch die Eltern, ungünstiges Familienklima ■ niedriger Sozial- oder Bildungsstatus der Familie ■ fehlende Medienerziehung, fehlende Nutzungsregeln ■ Adipositas Pontes & Griffith, 2015), Nutzungsstörung sozialer Medien (zum Beispiel Social Media Disorder Scale for Adolescents, orientiert an ICD-11 (SOMEDIS-A); Paschke et al. 2022), sowie für Cybermobbing (Cyberbullying Questionnaire, (CBQ); Calvete et al. 2010). Es steht Illustration: Moritz Kessler Diagnoseinstrument für die Praxis: Der Leitfaden des deutschen Fachverbands für Medienabhängigkeit e.V. zu einem strukturierten klinischen Interview zu internetbezogenen Störungen kann über den folgenden Link heruntergeladen werden (enthält Links zu Anleitungen, Kommentaren und Interview): https://www.fv-medienabhaengigkeit.de/fileadmin/images/ Dateien/AICA-SKI_IBS/FVM_Diagnostikinstrument_2017.pdf

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