KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

01 / 2024 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 25 Kasten 1: Internetbezogene Störungen, abweichende Nutzung und assoziierte Begriffe Pathologische oder riskante Nutzung ■ Internetsucht / riskante Internetnutzung (schliesst alle Unterformen ein) ■ Pathologische oder riskante Handynutzung ■ Pathologisches oder riskantes Computerspielen (online oder offline [z.B. Spielekonsole]) ■ Pathologische oder riskante Nutzung sozialer Medien bzw. Messenger Dienste (z.B. TikTok, Instagram, WhatsApp, Snapchat) oder Chatforen ■ Pathologische oder riskante Onlinekäufe ■ Pathologischer oder riskanter Konsum von Online-Pornografie ■ Pathologischer oder riskanter Konsum von Videoclips oder Streaming-Diensten (zum Beispiel YouTube, Netflix) Dysfunktionale Nutzungsweisen und assoziierte Begriffe ■ Konsum schädlicher oder nicht altersgemässer Inhalte (z.B. Videoclips oder Games mit Gewalt, rassistischen, sexistischen oder pornografischen Inhalten) ■ Risikoreicher Umgang mit eigenen Daten (zum Beispiel eigene freizügige Fotos ins Netz stellen) ■ Teilnahme an Chatgruppen, die zu selbstschädigendem Verhalten aufrufen (zum Beispiel Anorexie-Foren, Suizidforen, «Ritzer»-Foren) ■ FOMO («fear of missing out») (Angst etwas zu verpassen, wenn man nicht ständig online ist) ■ Sexting (eigene Nacktbilder werden als «Liebesbeweis» oder Mutprobe verschickt) ■ Phubbing (aus «phone» und «snubbing» – jemanden vor den Kopf stossen) (einer anwesenden Person wird keine Aufmerksamkeit geschenkt, weil man mit dem Smartphone beschäftigt ist) ■ Cyberchondrie (übermässige Onlinesuche nach Beschreibungen von Krankheiten, von denen man sich betroffen glaubt) Deviante Nutzungsweisen ■ Cybermobbing (auch «Cyberbullying») (jemanden herabsetzen, beleidigen oder falsche oder unerlaubt persönliche Informationen veröffentlichen) als Opfer oder Täter ■ Spezialformen z.B.: • Cyberstalking (wiederholte Belästigungen, eventuell mit Drohungen) • Grooming (unter Vortäuschung falscher Identität versuchen Erwachsene online ein Vertrauensverhältnis mit einem Kind/Jugendlichen aufzubauen, um reale Treffen anzubahnen) Einleitung Der 15-jährige Jonas ist abgetaucht in eine Computerspielwelt. Sport oder Freunde treffen finden in seinem Leben nicht mehr statt. Er sitzt tage- und nächtelang am Computer. Inzwischen geht er nicht mehr in die Schule. Von seiner alleinerziehenden Mutter, die selbst psychisch stark belastet ist, lässt er sich nichts mehr sagen. Die 14-jährige Emma ist ständig mit ihrem Smartphone online: ununterbrochen checkt sie die neuesten Posts oder gibt selbst Nachrichten ein. Sie weigert sich, mit der Familie in die Ferien zu fahren, da dort der Internetzugang unsicher sei. An Abmachungen, zwischendrin das Handy auszuschalten, hält sie sich nicht mehr. Auf Versuche der Eltern, dann das Handy wegzunehmen, reagiert sie wütend und aggressiv. Ab wann ist die Nutzung von digitalen Medien gefährlich? Mediengebrauch ist im Alltag allgegenwärtig. Digitale Techniken und Angebote unterliegen einem raschen Wandel, dem die jugendlichen Nutzer:innen schnell folgen, und der mit neuen, unvorhersehbaren Risiken für die psychische und physische Gesundheit verbunden sein kann. Formen riskanter und pathologischer Mediennutzung Eine einheitliche Definition für «Internetsucht» gibt es bislang nicht. Man findet in der Literatur unterschiedliche Begriffe mit ähnlicher Bedeutung, wie beispielsDR. MED. ANNA MARIA WERLING FACHÄRZTIN FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND -PSYCHOTHERAPIE, OBERÄRZTIN AMBULATORIUM USTER, KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE, PSYCHIATRISCHE UNIVERSITÄTSKLINIK ZÜRICH, UNIVERSITÄT ZÜRICH PROF. DR. PHIL. RENATE DRECHSLER LEITERIN NEUROPSYCHOLOGIE, KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE, PSYCHIATRISCHE UNIVERSITÄTSKLINIK ZÜRICH, UNIVERSITÄT ZÜRICH Korrespondenzadresse: anna.werling@pukzh.ch Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen weise internetbezogene Störung, pathologische Internetnutzung, süchtiges Onlineverhalten, exzessive Internetnutzung und im Kinder- und Jugendbereich auch medienbezogene Störung (Paschke et al. 2020) oder dysregulierter Bildschirmmediengebrauch (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin et al., 2023). Man unterscheidet zwischen generalisierter Internetnutzungsstörung und spezifischen Störungen, die sich auf einen bestimmten Medien- oder Gerätetyp beziehen, wie zum Beispiel der riskanten oder pathologischen Nutzung von Videospielen, sozialen Medien, Streamingdiensten, Handy sowie dysfunktionalen oder devianten Internet-Aktivitäten wie Sexting oder Cybermobbing (Kasten 1). Internetbezogene Störungskategorien im ICD-11 (11. Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten) beziehen sich bislang nur auf «Computerspielsucht» (Gaming Disorder, 6C51; Kasten 2) und auf Glücksspielsucht. Auch wenn in den internationalen Diagnosesystemen «Internetsucht» oder spezifische Unterformen wie «pathologische Nutzung von sozialen Medien» nicht als Kategorien enthalten sind, bietet die ICD-11 immerhin die Möglichkeit, sie als «sonstige näher bezeichnete Störungen durch Verhaltenssüchte» (6C5Y) zu kodieren. Problematisches Computerspielen, das noch nicht den vollständigen Kriterien einer Sucht entspricht, kann in der ICD-11 als «riskantes» (englisch «hazardous») Computerspielen kodiert werden (QE22), das dem Bereich der «Problematik in Verbindung mit Gesundheitsverhalten» zugeordnet ist (Kasten 2).

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