KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

01 / 2024 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 19 ■ Eine genetische Veranlagung zu Suchtverhalten, männliches Geschlecht ■ Einflüsse und Vorbilder innerhalb der Familie, der Peergroup oder der Gesellschaft ■ Psychosoziale Faktoren wie Stress, Leistungsprobleme, Selbstunsicherheit, anhaltende Konflikte sowie ungelöste Identitäts- und Entwicklungsaufgaben ■ Leichte Verfügbarkeit und Zugang zu Cannabisprodukten ■ Mangelnde Aufklärung über die Risiken und Konsequenzen des Cannabiskonsums Die Übergänge von gelegentlichem, jugendtypischem Konsum zu riskantem oder schädlichem Gebrauch bis hin zur Abhängigkeit sind fliessend. Dabei sind nicht die konsumierten Mengen in Gramm oder die Häufigkeit in Tagen ausschlaggebend, sondern vielmehr das Funktionsniveau im täglichen Leben, das individuelle Wohlbefinden, die Bedeutung des Konsums sowie der soziale Kontext, in dem das Individuum eingebunden ist und Schaden nehmen kann. Das Potenzial für Schädigungen, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung neurokognitiver Folgestörungen und psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen, steigt beim Vorliegen folgender Bedingungen: ■ Ein frühzeitiger Beginn, insbesondere vor dem 16. Lebensjahr ■ Intensiver und exzessiver THC-Konsum ■ Die Dauer des Konsums, also je länger der Cannabiskonsum besteht ■ Fehlende oder geringe Abstinenzphasen seit Beginn ■ Verwendung hochpotenter Cannabisprodukte mit einem hohen THC-Gehalt Entscheidend ist also primär, auf welchen Entwicklungsgrad des jugendlichen Gehirns der Konsum von Cannabis trifft und wie weit die psychosoziale Reife ohne die toxischen Folgen stattfinden konnte. Folgestörungen durch Cannabiskonsum bei Jugendlichen Intensiver Cannabiskonsum kann psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Psychosen auslösen oder verstärken (Marconi et al., 2016; Connor et al., 2021). Jugendliche, die bereits an einer psychischen Erkrankung leiden, haben wiederum ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Substanzkonsums mit weiteren schädlichen Folgen. Gesundheitsschädlicher Cannabiskonsum bei Jugendlichen kann zu Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung führen, insbesondere in Bereichen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit (Scott et al., 2018). Die Frage nach der Reversibilität der Störungen bei Jugendlichen, auch bei fortgesetzter THC-Abstinenz, ist bisher noch nicht abschliessend geklärt, wie von Ganzer et al. (2016) dargelegt. Jugendliche, die exzessiv THC konsumieren, haben ein erhöhtes Risiko, abhängig zu werden. Regelmässiger Konsum kann sich auf soziale Beziehungen auswirken, bis hin zur Isolation. Cannabiskonsum kann die schulische Leistung beeinträchtigen, was langfristig dann zu einem geringeren Bildungsniveau führen kann (Lynskey & Hall, 2000). Motivationale Schwierigkeiten und Antriebsprobleme können dazu führen, dass Alltagsaufgaben vernachlässigt und Aktivitäten oder Hobbies aufgegeben werden (Urits et al., 2021). Der Erwerb und Besitz von Cannabis können zu Strafverfolgung und rechtlichen Konsequenzen führen. Akut kann der Cannabiskonsum die Reaktionsfähigkeit, z. B. bei Teilnahme im Strassenverkehr, beeinträchtigen. Schliesslich sind auch somatische Schädigungen wie chronische Bronchitis durch das Inhalieren bei gleichzeitigem Tabakkonsum zu berücksichtigen. THC kann den Herzschlag beschleunigen und den Blutdruck erhöhen, was das Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme erhöhen kann, vor allem bei Vorerkrankungen oder bei multiplem Substanzkonsum (Ford et al., 2018). Erste Schritte… Die frühzeitige Identifikation von Jugendlichen mit problematischem Cannabiskonsum ist entscheidend, um langfristige Gesundheitsschäden, wie zuvor beschrieben, zu verhindern. Haus- und Kinderärzt:innen haben dabei eine Schlüsselrolle in der Früherkennung inne. Daher sollte auf Anzeichen von Substanzkonsum geachtet werden, wie zum Beispiel verändertes Verhalten, Schulprobleme oder sozialer Rückzug. Meist wenden sich Bezugspersonen zuerst an das Helfersystem. Das Ansprechen der jugendlichen Patient:innen auf möglichen oder bestätigten Cannabiskonsum erfordert Fingerspitzengefühl, rationale Gesprächsführung Infobox 2: Indikation für eine ärztlich-psychiatrische Behandlung: 1. Akute Psychopathologie und/oder komplexe Diagnosen: ■ Schwere Depressionen, bipolare Störungen oder akute Psychosen. ■ Multiple psychiatrische Diagnosen und Bedarf an ärztlicher Begleitung. 2. Medikamente als Notwendigkeit: ■ Zur Entgiftung oder Behandlung psychischer Komorbidität. 3. Somatische Schäden durch den Substanzkonsum: ■ Intoxikationen, körperliche Schäden, Selbstverletzungen oder Verletzungen.

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