KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 01 / 2024 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 18 Einleitung Cannabiskonsum hat in verschiedenen Kulturen und Naturvölkern eine lange Tradition, verbunden mit unterschiedlichen spirituellen oder sozialen Ritualen. THC (Tetrahydrocannabinol), ein psychoaktiver Wirkstoff in Cannabis, wurde erstmals 1964 isoliert. Der menschliche Körper produziert natürliche Cannabinoide, sogenannte Endocannabinoide, die bereits während der Embryonalentwicklung verschiedene physiologische Prozesse beeinflussen. Sie spielen eine Rolle in der Regulation von Stimmung, Appetit und der Verarbeitung von Informationen im Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis. Medizinisch wird Cannabis heute u. a. zur Linderung von chronischen Schmerzen, Übelkeit bei Krebspatient:innen, Glaukom und Muskelkrämpfen bei Multipler Sklerose eingesetzt. Die Anwendung von THC zu medizinischen Zwecken erfordert ärztliche Verordnung und therapeutische Begleitung. Der Einsatz bei psychiatrischen Erkrankungen wird derzeit nicht empfohlen (Hill et al., 2022). Einem weiteren Cannabinoid, CBD (Cannabidiol), werden entkrampfende, entzündungshemmende, antipsychotische und angstlösende Effekte zugeschrieben. Im Gegensatz zu THC verursacht es keinen Rausch und ist in der Schweiz frei erhältlich. Die zunehmende Legalisierung von Cannabis in verschiedenen Staaten und der durch potente Züchtungen gestiegene THC- im Vergleich zu CBD-Gehalt haben eine kontroverse Debatte ausgelöst. In der Schweiz sprechen DR. MED. FLORIAN GANZER FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND -PSYCHOTHERAPIE, BACHELOR PSYCHOLOGIE, WINTERTHUR Korrespondenzadresse: florian.ganzer@ protonmail.com Cannabiskonsum von Jugendlichen in der Schweiz Eine Orientierung für die kinderärztliche Praxis sich 72% der Bevölkerung für eine liberalere Cannabisregulierung aus (Monitoringsystem Sucht und NCD des Bundesamtes für Gesundheit). Befürworter:innen argumentieren, dass die Entkriminalisierung den illegalen Cannabishandel eindämmen und die Wirtschaft durch Besteuerung stimulieren könnte. Gegner:innen der Freigabe warnen vor gesundheitlichen Risiken und einem möglichen Anstieg des Jugendkonsums durch eine ungünstige Signalwirkung. Die meisten Konsument:innen nutzen Cannabis eher im Sinne einer Selbstmedikation, um Schlafstörungen zu lindern, Emotionen zu regulieren, z. B. die Stimmung zu verbessern, die Kreativität zu steigern oder unangenehme Reize zu dämpfen. Bei Jugendlichen spielen Neugier, Lust, das Aufbegehren gegen Normen und Gruppendruck eine zusätzliche Rolle. Dieser Artikel konzentriert sich auf den Freizeitkonsum, die «rekreative» Konsumierung von THC bei Jugendlichen. Beide Begriffe beschreiben den Konsum von Cannabis ausserhalb von medizinischen oder therapeutischen Zwecken. Prävalenz Die jüngste Schüler:innenbefragung «Health Behaviour in School-aged Children» von 2022 (Balsiger et al., 2023) ergab, dass etwas mehr als 10% der 15-jährigen Jugendlichen in der Schweiz in den letzten 30 Tagen Cannabis konsumiert hatten. Dies betraf 12,1% der Jungen und 8,4% der Mädchen. Fast jede/r fünfte 15-Jährige gab an, zumindest einmal im Leben Cannabis konsumiert zu haben. In der Regel geht der Konsum von THC mit gleichzeitigem Gebrauch anderer Substanzen einher (Alkohol, Medikamente, andere illegale Substanzen etc.), was Wechselwirkungen mit sich bringen kann. Im Jahr 2022 konsumierten 9,7% der 14- und 15-jährigen Jugendlichen in der Schweiz mindestens zwei psychoaktive Substanzen gleichzeitig in riskanter Weise. Nach einem deutlichen Rückgang zwischen 2010 und 2014 ist dieses Konsumverhalten bis 2022 stabil geblieben und bleibt daher ein bedeutsames gesundheitliches Anliegen bei Jugendlichen für die ärztliche Praxis. Risikofaktoren Der Cannabiskonsum unter Jugendlichen wird durch verschiedene Einflussfaktoren geprägt, deren Verständnis entscheidend ist, um effektive Unterstützung zu bieten. Zu den bedeutendsten Risikofaktoren, die den Konsum bei Jugendlichen begünstigen können, gehören modifiziert nach Dugas et al. (2019): Infobox 1: Motivational Interviewing (MI) für positive Verhaltensänderungen entwickelt von Miller und Rollnick. Prinzipien: ■ Betont einfühlsame Kommunikation, Reflexion und Zusammenfassung. ■ Vermeidet Konfrontation durch Kollaboration, betont Hervorbringen von Ideen der Jugendlichen. ■ Betont Autonomie der Jugendlichen. Techniken: ■ Offene Fragen für Exploration. ■ Affirmationen zu Selbstvertrauen. ■ Reflexives Zuhören als Ausdruck von Empathie. ■ Zusammenfassungen zur Strukturierung von Informationen.

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