KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2023

04 / 2023 JAHRESTAGUNG KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 29 In diesem Workshop kamen wir der Psychosomatik näher. Die veraltete duale Sichtweise (somatisch vs. psychisch) wurde ersetzt durch das bio-psycho-soziale Konzept. Dabei steht das Biologisch-Somatische für objektivierbare Erkrankungen, das Psychologische für das subjektive Empfinden und das Soziale für die Auswirkungen auf das soziale Leben. Entsprechend spricht man von einer somatoformen oder funktionellen Störung und nicht von psychosomatischer Erkrankung. Eines der Erklärungsmodelle zur funktionellen Störung bei Kindern stammt von Noecker. Demnach sei in einer ersten Etappe eine funktionelle Erkrankung vorhanden, die sich in einer zweiten Etappe im Sinne einer Anpassungsstörung (gestörte Anpassung an die funktionelle Störung) manifestiere. Für den Therapieerfolg sind erstens die vertrauensvolle Beziehung zur Patient:in und zweitens die Art und Weise der Diagnosemitteilung massgebend. Bei der Kommunikation der Diagnose sind ein positives Wording und Aufklärung über das Krankheitsbild wichtig (Abb. 1). Daraufhin werden gemeinsam mit Kind und Eltern BewälREFERENT: DR. MED. CORSIN BISCHOFF Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie FMH, Leitender Arzt am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) des Kantonsspitals Winterthur MODERATION: DR. MED. SABINE BENZ-AESCHLIMANN Fachärztin Kinder- und Jugendmedizin FMH, Praxis für Kinder- und Jugendmedizin, Winterthur AUTOR: DR. MED. MARTIN RÖSSLER Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderarztpraxis Kilchberg Korrespondenzadresse: mroessler@hin.ch Workshop Ärztinnen und Ärzte 12: Psychosomatik Psychosomatische Beschwerden und Schulabsentismus: mühsam oder Challenge? tigungsverfahren erarbeitet, zu denen viele Bekannte (Abb. 2) aus unserem Praxisalltag gehören. Fast zu kurz kam das Thema Schulabsentismus. Gemeinsam mit Schule und Lehrern können Strategien erarbeitet werden, die das schulvermeidende Verhalten auflösen (Abb. 3). Die Teilnehmenden tauschten sich immer wieder kurz aus. Zum Beispiel wurde die Qualität der Kommunikation zwischen Psychiater:innen und Praxispädiater:innen diskutiert, die sehr unterschiedlich erlebt und der ein hoher Stellenwert zugedacht wird. Erfahrungen zeigten, dass wir bei somatoformen Störungen manchmal falsch liegen und Abklärungen nicht verpasst werden sollten. ■ Wichtig ist, vom passiven Ertragen ins aktive Tun zu kommen ■ Auslöser: Beobachtungsaufgabe, Schmerzkalender ■ Massnahmen der Schmerzlinderung: Entspannung, Ablenkung, Vorstellungsübung, Wärmeflasche … ■ Reaktionen der Eltern: echtes Mitgefühl, Trost, aber keine Vergünstigungen, die den Krankheitsgewinn verstärken könnten, Zuversicht ■ Aktivitäten weiterführen: Trotz Schmerzen nach draussen gehen, abmachen, in die Schule gehen ■ evtl. zusätzliche Therapien: Physiotherapie, Ausdruckstherapien, Psychotherapie Umgang mit Schulabsentismus ■ früher Kontakt mit Schule lohnt sich ■ Schule kann evtl. unterstützen, z. B. Schulwegbegleitung durch SSA, Erholungsraum in der Schule bei Schmerzen, evtl. Info an Mitschüler:innen ■ Cave Arztzeugnis: Schule kann ihre Verantwortung nicht wahrnehmen ■ Haltung der Eltern bezüglich Schulbesuch wichtig ■ einerseits Verständnis für die Nöte des Kindes wichtig, andererseits klare Haltung, dass Kind in die Schule gehen muss. Jedoch ohne Zwang oder Druck ■ positive Haltung gegenüber der Schule einnehmen ■ Bei längerer Schulabsenz kann ein stationärer Aufenthalt sinnvoll sein Abb. 2: Bewältigungsverfahren Abb. 3: Strategien bei Schulabsentismus Software- statt Hardware-Problem: «Ihr Kind erfüllt alle Kriterien einer funktionellen Störung. Diese Störungen sind häufig, wir Kinderärzte haben viel Erfahrung damit. Sie sind wissenschaftlich gut untersucht.» Fragen besser als Vortrag «Was glauben Sie persönlich, woher die Schmerzen Ihres Kindes kommen? Haben Sie Angst vor einer bestimmten Erkrankung?» Leitkonzept Hypersensitivität «Unsere Untersuchungen zeigen, dass der Darm normal funktioniert. Trotzdem hat ihr Kind starke Bauchschmerzen. Der Grund ist, dass Ihr Kind eine verstärkte Schmerzempfindung im Darmbereich hat. Das kann angeboren oder Folge einer Entzündung im Bauch sein.» Interaktion ZNS-vegetatives NS «Im Darm gibt es sehr viele Nervenzellen. Diese sind eng mit den übrigen Nerven und dem Gehirn verbunden. So spürt man z. B. Angst oder Aufregung oft im Bauch und einige Menschen haben Durchfall bei starker Nervosität. Es ist auch möglich, dass Ihr Kind etwas beschäftigt, was es nicht in Worte fassen kann.» Somatoforme Fehlattribution «Manchmal bekommt man als Eltern Angst, wenn das Kind so starke Bauchschmerzen hat, dass eine schlimme Krankheit dahinterstecken könnte. Der Bauch ist aber gesund, er ist einfach sehr empfindlich. Das merken Sie daran, dass es Ihrem Kind schnell wieder sehr gut geht, wenn die Schmerzen vorbei sind.» Akzeptanz der Disposition und aktive Bewältigung «Leider können wir die Veranlagung zur Schmerzempfindung nicht ändern. Aber es gibt trotzdem Möglichkeiten, auf die Schmerzen und deren Bewältigung Einfluss zu nehmen.» Abb. 1: Positive Diagnosestellung

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