KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2023

04 / 2023 JAHRESTAGUNG KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 21 frühen Kindheit. Oskar Jenni habe das Grundthema ja lapidar als Buchtitel zusammengefasst. Die Gesellschaft muss einfach «Die kindliche Entwicklung verstehen» – denn die Weichen für die Bildungs- und Gesundheitsbiografie werden in der frühen Kindheit gestellt. Dass dies der Gesellschaft nicht bewusst sei, habe ja H. Bertrami in einem Interview in der NZZ (2.9.2023) mit dem Begriff «die kinderentwöhnte Gesellschaft» terminiert. Die Gesellschaft ist nicht kinderfeindlich, sondern viele Erwachsene haben ihre Kindheit «vergessen» und setzen sich in ihrem Leben – mindestens über längere Zeit – nicht mehr mit dem Thema Kinder und Entwicklung auseinander. Wenn aber erkannt wird, wie wichtig es ist, elterliche Kompetenzen zu stärken, Kindern Wahlchancen zu geben, wenn Eltern einfach zugehört würde, dann würde man erkennen, wie einfach es sein kann, Familien und auch Jugendliche konkret zu unterstützen. Die Rednerin illustrierte dies am Beispiel einer sozial benachteiligten Familie, welche einfach die Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie in Sizilien benötigt hätte. Die Idee, ihnen eine solche Reise zu ermöglichen, wurde stets verworfen, dafür viel Geld in teure und nicht hilfreiche Entlastungsprogramme gesteckt. Jugendliche stecken da mittendrin – und können von ihren Familien dann ideell und praktisch nicht unterstützt werden. Sie fallen dann – alleingelassen mit ihren Sorgen und Ängsten – in die ungünstigen Lösungsmuster zurück, die sie kennen – also Rückzug, Passivität, Aggression – Hilflosigkeit oder wie Heidi Simoni prägnant meinte: «Generation Scheissegal!». Dass es aber auch anders geht, zeigte die Rednerin im abschliessenden Teil ihres Vortrags: Erfolgreiche Bezugspersonen – also auch der/die Kinderärztin – müssen mehr erfüllen als die drei bekannten «V» – verlässlich, vertraut und verfügbar – sie müssen auch ein viertes «V» erfüllen: LiebeVoll! Nur mit liebevoll-verständigem Zugang gelingt ein Beziehungsaufbau, sowohl in der Kindheit als auch beim Jugendlichen. Damit kann dann weiter «gebaut» werden. Beim verunsicherten Jugendlichen kommt es so unter Einbezug der Selbstpartizipation und dem Erleben der Selbstwirksamkeit zum dringlich benötigten Resilienzaufbau. Kai von Klitzing hat dies schön ausgedrückt: Man kann nicht immer alles «heilen», aber wir können Entwicklungsräume schaffen und in diesen können sich betroffene Jugendliche dann auch entwickeln. Maria Teresa Dietz-Grieser beschrieb dies treffend in ihrem Buch über «Mentalisieren – mit Kindern» (Dietz + Müller, 2019): Ein neues Narrativ wird entwickelt und dies führt zur Entwicklung einer eigenen und gestärkten Identität. Den Jugendlichen in der Schweiz stehen viele Wege offen, um dies zu erreichen: Am bekanntesten ist sicher das Sorgentelefon für Jugendliche 147, aber es gibt auch Internetseiten wie ombud.ch zum Thema Kinderrechte und Vernetzungsplattformen wie vom BAG unterstützte Seiten Primokiz oder Megamarieplus. Persönliche Hilfe wird vielerorts angeboten in Form von Begleitung, Beratung und Therapie in Schule, niederschwellig arbeitenden Sozialarbeiter:innen und nicht zuletzt eben auch durch uns – die Ärztinnen für Kinder und Jugendliche! Für die Rednerin bleibt aber essenziell, dass das Problem der psychischen Gesundheit von Jugendlichen nicht mit einer Lösung innerhalb des Jugendalters allein gelöst werden kann, sondern es bereits mit der entsprechenden Sensibilisierung und dem Aufbau eines interdisziplinären Netzes in der frühen Kindheit beginnen muss, welches dann auch im weiteren Leben tragfähig bleiben wird. ■ Einfluss hoch belastender Kindheitserfahrungen über Lebensspanne ACE: adverse childhood experiences Frühzeitiger Tod Krankheiten, Behinderungen und soziale Probleme Übernahme von Risikoverhaltensweisen Soziale, emotionale und kognitive Beeinträchtigungen Gestörte neurobiologische Entwicklung Belastungen in der frühen Kindheit Huebner, G. et al. (2016). Beyond Survival: The Case for Investing in Young Children Globally. Discussion Paper, National Academy of Medicine, Washington, DC. Quelle: Heidi Simoni

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx