KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 03 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 26 Das kommt sehr auf die Institution und die Untersuchenden an. Wir müssen dabei zwei verschiedene Settings unterscheiden: Einerseits eine spezifische Abklärung an einer Institution wie z. B. dem Kinderspital Zürich oder dem SPZ in Winterthur, und andererseits ein erweitertes Screening in der Praxis. Zu einer Diagnostik gehören immer eine gute, ausführliche Anamnese – bei Fremdsprachigen stets mit Dolmetscherin –, eine möglichst umfassende Entwicklungsbeurteilung der Kognition, Sprache und Motorik, und dann eine ADOS-Untersuchung (ADOS steht für «Autism- Diagnostic-Observation-Schedule» und ist ein standardisierter Test, um altersbezogen autistische Besonderheiten in der Kommunikation, der sozialen Interaktion und im Spielverhalten zu erkennen. Zusammen mit dem Interviewbogen ADI-R bilden sie den internationalen Goldstandard bei der ASS-Abklärung.). Dazu kommt dann das Auswertungsgespräch. Jede Abklärungsstelle hat eigene Abläufe, die unter anderem auch abhängig von den Ressourcen sind. Prinzipiell sollte der ADOS zu zweit durchgeführt werden, aus zeitlichen und personellen Gründen erfolgt die Untersuchung jedoch manchmal durch eine Fachperson alleine mit anschliessender Besprechung der entscheidenden Videosequenzen in einem Fachteam. Meine Erfahrung ist, dass die eindeutig unauffälligen und klar pathologischen Kinder schnell und einstimmig beurteilt werden können; bei den Kindern mit einem fraglichen Autismus braucht es häufig eine Verlaufskontrolle. Dazu kommen noch die doch umfangreiche Dokumentation und Berichterstattung sowie die Kommunikation mit Zuweisenden und Fachstellen. Somit kommen wir zu unserem grössten Problem: die langen Wartezeiten, sowohl für die Abklärung als auch für die spezifischen Therapien. Die gewünschte Faustregel «Anzahl Altersjahre = Anzahl Monate» bis zu einem Abklärungstermin kann kaum eingehalten werden. Aus diesem Grund habe ich in letzter Zeit einen pragmatischen Ansatz gewählt und Kinder zwischen 18 Monaten und vier Jahren bei mir in der Praxis zu einem einmaligen Termin von zwei Stunden eingeladen. Ziel dieser «Screeninguntersuchung» ist es, zusammen mit den Eltern zu entscheiden, ob ein hochgradiger Autismusverdacht und der Bedarf für entsprechende Autismusdiagnostik bestehen. Wenn ein Therapiebedarf (Heilpädagogik, Logopädie) besteht, kann ich diesen direkt mit den Eltern in die Wege leiten und dadurch viel Zeit sparen. Die aufwändigere spezifische Autismusdiagnostik kann dann ohne Zeitdruck sechs bis neun Monate später stattfinden. Dieses Vorgehen ermöglicht es, mit den Therapien bereits zu beginnen und lässt zudem auch den Eltern Zeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sind neben Entwicklungspädiaterinnen auch andere Berufsgruppen in eine Abklärung involviert? Unbedingt. In meinem Alltag wird der Verdacht oft nicht durch die Eltern, sondern durch den behandelnden Kinderarzt, eine bereits involvierte Therapeutin (Heilpädagogik, Logopädie oder Physio-, Ergotherapie) oder einen Spielgruppen- oder Krippenmitarbeiter gestellt. Sind bereits Fachpersonen involviert, werden diese wenn immer möglich in eine Abklärung mit einbezogen. Die Abklärung selber erfolgt – soweit mir bekannt ist – nur in dafür spezialisierten Praxen oder Kliniken, durch dafür ausgebildete Kinderpsychologinnen, Kinderpsychiater oder eben Entwicklungspädiaterinnen. Empfiehlst Du also aufgrund der monatelangen Wartezeiten direkt eine heilpädagogische Frühförderung in die Wege zu leiten oder bringt das schlussendlich mehr Verwirrung? Ja, das würde ich. Alle Kinder mit einer relevanten Entwicklungsverzögerung, völlig unabhängig von der Ursache (krankheitsbedingt, genetisch, mangelnde Förderung, ASS oder andere Gründe) profitieren von einer heilpädagogischen Förderung. Zudem hilft uns der vor Ort arbeitende Therapeut im Coaching der Eltern, aber auch bei der Beobachtung von Verhaltensauffälligkeiten und Verläufen, was wiederum diagnostisch sehr hilfreich ist. Häufig erhalten wir nach der Abklärung umfangreiche Briefe mit der Diagnose: «Verdacht auf Autismus-Spektrum-Störung» oder «Hinweise auf Asperger-Syndrom». In welchem Zeitabstand ist eine erneute Abklärung sinnvoll? In den meisten Fällen wird dies ja im Prozedere vorgeschlagen, ansonsten würde ich nachfragen. Je nach Alter des Kindes macht eine erneute Untersuchung 12 bis 18 Monate nach Beginn der spezifischen Förderung Sinn. Der Entwicklungsverlauf plus die Beobachtungen der mit dem Kind arbeitenden Therapeutinnen führt dann meistens zur Klärung der Verdachtsdiagnose. Konkret handhabe ich das so, dass ich versuche eine erneute Untersuchung im Herbst vor Kindergarteneintritt durchzuführen und zum Abschlussgespräch die involvierten Therapeutinnen einzuladen, um dann gemeinsam die weitere Förderung und insbesondere den Kindergarteneintritt zu besprechen. Wie grosszügig sollen wir Geschwisterkinder abklären lassen? Das ist eine Frage, die, wie ich denke, viel zu selten gestellt wird. Sicherlich wird bei der Anamneseerhebung die sozio-emotionale Entwicklung der Geschwister auch erfragt. Bei blander Anamnese fehlen dann aber die Ressourcen, um die Geschwister routinemässig zu beurteilen. Ich denke, wir Praxispädiaterinnen sind deshalb gefordert, bei den Vorsorgeuntersuchungen der Geschwisterkinder noch genauer hinzuschauen.

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