KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 03 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 22 Als Vater von zwei Kindern im Autismus-Spektrum und als Kinderarzt erfahre ich jeden Tag selbst, wie divers und komplex dieses Thema ist. Nach wie vor ist es herausfordernd, Tipps oder Anleitungen für das Begleiten von Kindern im Autismus-Spektrum und deren Familien zu geben, denn jedes Kind, jedes Familiensystem und jedes Umfeld ist anders. Etwas, das bei einem Kind oder in einer Situation unterstützend wirkt, kann bei einem anderen Kind oder in einer anderen Situation genau das Gegenteil bewirken. Es ist mir daher wichtig zu betonen, dass ich kein Patentrezept für das Miteinander mit Menschen im Autismus-Spektrum geben möchte oder kann, ich kann mich lediglich zu unserem Rezept äussern. Um der Sache noch etwas gerechter zu werden, habe ich als tat- und wortkräftige Unterstützung meine Ehefrau ins Boot geholt und erlaube mir, fortan in der Wir-Form zu schreiben. Es folgen also unsere persönlichen Erfahrungen/Meinungen und einige Einblicke in unseren gemeinsamen Weg mit unseren Kindern. Und vielleicht können wir Ihnen doch etwas mit auf den Weg geben, das Ihnen im Alltag bei Begegnungen mit Kindern oder auch Erwachsenen im Autismus-Spektrum von Nutzen sein könnte oder Sie zumindest für einen Moment innehalten lässt. «Push the Context-Button» – dies ist für diejenigen, welche den nationalen Autismuskongress 2022 in Bern besucht haben, sicher ein Begriff. In der Begegnung mit Kindern im Autismus-Spektrum ist es wichtig, dass Sie stets den Kontext, das «Drumherum», den Zusammenhang mit einbeziehen, also: Warum sage ich nun etwas zu dir oder wie und warum untersuche ich nun dein Trommelfell… Denn alles Implizierte, inkl. sozialen Normen, erschliesst sich nicht einfach, sondern bedarf Zeit und Raum. Wir drücken nun den Context-Button für Sie und führen Sie in unsere Familie ein. Wir sind eine Familie mit 4 Kindern, Levan (*2008), Malin (*2010), Jorin (*2012) und Ilvi (*2015). Bei Levan wurde im Alter von ca. acht Jahren, bei Jorin im Alter von ca. sechs Jahren die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung gestellt. Wir bevorzugen den Begriff Neurodivergenz oder Neurodiversität. Malin und Ilvi zeigen sich bis anhin neurotypisch. Der Erstgeborene, Levan. Zur frühen Kindheit gibt es nicht viel zu sagen, ausser, dass wir noch vage in Erinnerung haben, dass Levan ausgeprägte Schreiphasen hatDR. MED. RONALD JAGER RINER KINDERARZT, OLTEN Korrespondenzadresse: ronny.jager@ kinderarztpraxis-olten.ch LIC.PHIL.I, SIMONE RINER KUNSTTHERAPEUTIN (ED), OLTEN • Band in den Regenbogenfarben, das entsteht, wenn weisses Licht durch ein gläsernes Prisma fällt und so in die einzelnen Wellenlängen zerlegt wird, aus denen es sich zusammensetzt • Gesamtheit der Schwingungen elektromagnetischer Wellen eines bestimmten Frequenzbereichs • reiche Vielfalt Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Spektrum, abgerufen am 22.5.2023 Spektrum, das te. Im Verlaufe des Kleinkindesalters kamen dann immer mehr Eigenarten zusammen, die uns dann doch überlegen liessen, ob da etwas anders ist. Die Besuche auf dem Spielplatz waren sehr anstrengend und konfliktbehaftet, spontane Ausflüge waren mit viel Energieaufwand und häufig am Ende mit (gegenseitigem) Frust verbunden. Übergänge waren schwierig. Das Essverhalten zeigte sich zunehmend einseitiger, zu viele Leute zur gleichen Zeit führten zu einem explosiven Klima oder erforderten Rückzug und lange Erholungszeit. Für ehemalige Pfadis und gesellige Menschen wie uns Eltern war das mit viel Anpassungsleistung verbunden. Und hier möchten wir gleich einen kleinen Einschub machen. Es besteht die Gefahr, das Thema oder die Situationen defizitorientiert anzugehen. Wichtig finden wir aber, dass man auch oder vor allem stärken- und ressourcenorientiert auf die Kinder und die Situationen zugeht. Levan ist enorm kreativ, hat phasenweise viel und detailliert gezeichnet, ist vor allem für naturwissenschaftliche und philosophische Dinge immer sehr begeisterungsfähig, ist belesen und konnte sich früh differenziert sprachlich ausdrücken, was es in Konfliktsituationen nicht immer leicht gemacht, dafür die Qualitätssicherung in familiären Strukturen immer optimiert hat. Übrigens: Jedem Betrieb (gross, klein, alternativ, modern oder innovativ) tut mindestens ein neurodivergenter Mensch als Mitarbeitender gut – einen besseren Lean Manager werden Sie kaum finden! Die Kindergartenlehrerin konnte es sehr gut mit allen unseren Kindern. Bei Levan zeigte sich dann ab der 2. Klasse, dass er und das Regelschulsystem überfordert sind, worauf eine Abklärung und die Diagnose folgten. Der Alltag bei uns zu Hause war ebenfalls herausfordernd. Der Umgang aber mit den Behörden/Schulen/SPD war es ebenso, immer wieder stand der Verdacht im Raum, dass das Problem doch an der Erziehung liegen könnte. Da Levan gemäss den Behörden das einzige Kind im Autismus-Spektrum in der Region war mit einem ähnlich kognitiven Potenzial (hoher IQ), hatte man schulisch noch keine Lösung parat. Unser erster Autismus-Coach war am Anfang mit viel Schwung dabei, sobald aber klar wurde, dass die üblichen Massnahmen nicht greifen, hat er sich in unserer Wahrnehmung ebenso schnell wieder «aus dem Staub» gemacht bzw. verflüchtigt. Es folgten Time-outs auf der Schulinsel und das Einsetzen einer Lehrkraft für Einzellektionen.

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