KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2023

03 / 2023 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 21 Um erkennen zu können, was anderen wichtig ist, braucht es zum Beispiel Kopfbewegungen. Gemäss meinen subjektiven Beobachtungen nutzen Menschen mit Autismus seltener Kopfbewegungen als andere. Als habe deren Kopf weniger Freiheitsgrade. Ein typisch wahrnehmendes Kind schaut dorthin, wo es Spannendes vermutet oder wo ihm Irritierendes begegnet, welches es rasch möchte einordnen können. Ein Akt des Erkenntnisgewinns, welcher dabei hilft, dass sich das Kind entweder bestätigt fühlt, im Sinne von «oh ja, das ist etwas Spannendes», und um die eigene Ungewissheit zu reduzieren. In der Hoffnung, dass das Beobachtete etwas harmloser ist als gedacht. Wer autistisch wahrnimmt und eher mit kleinsten Details in der unmittelbar nahen Umgebung beschäftigt ist, muss den Kopf nicht stark bewegen und hat per se weniger Erfahrungen im Umherschauen – und Mühe, die grösseren Zusammenhänge zu erkennen. Wer die Erfahrung gemacht hat, dass die eigene soziale Wahrnehmung nicht ausreicht, um etwas erkennen und einschätzen zu können (wichtig: Und wer nicht weiss, dass und wie man von den sozialen Erfahrungen anderer Menschen profitieren könnte), wird ebenfalls weniger umherschauen. Umherzuschauen wäre widersinnig. Mimische Gesichtsbewegungen vollführen neurotypisch wahrnehmende Menschen intuitiv, ohne darüber nachdenken zu müssen. Ihre Mimik widerspiegelt die innere Befindlichkeit. Es sei denn, sie möchten diese bewusst verbergen. Autistische Kinder können mimisch in der Regel nur rudimentär ausdrücken, was sie fühlen und brauchen, um innerhalb von kurzer Zeit von freudig zu verzweifelt, dann wieder zu freudig zu wechseln. Die Befindlichkeit ist nicht überdauernd. Und so wie die Detailwahrnehmung und Kommunikation die Interaktion und das Lernen beeinflussen, so beeinflusst die Gefühlswelt ebenfalls die Interaktion. Es braucht manchmal aus Aussensicht nicht viel und ein autistisches Kind ist mit einer Situation überfordert, durch äussere Bedingungen (zum Beispiel den Wechsel von einer zur anderen Tätigkeit), oder durch innerliche Prozesse: Es will oder plant etwas, kann es nicht genau so umsetzen, wie es will, oder schafft es nicht alleine. Es widerfährt ihm etwas anderes als es erwartet: Das Kind möchte zum Beispiel ein Rad an einem Spielzeugauto drehen, aber das Rad fällt plötzlich ab. Es möchte das Essen mit der Gabel in den Mund schieben und ein Teil der Gabelspitze berührt aus Versehen die Zähne. Für ein autistisches Kind kann dies wie ein Albtraum sein, weil so nicht erwartet. Mein eigenes autistisches Gehirn ging meistens davon aus, dass alles, was ich denke und von anderen Menschen höre, in Stein gemeisselt ist. Dass es 1:1 so kommen wird, wie es in meinem Kopf vorhergesehen ist. Die Welt ist aber nicht statisch und ändert sich laufend. Wer niemals davon ausgeht, dass die Gabel die Zähne berühren könnte oder immer wieder vergisst, dass so etwas passieren kann, wird massiv erschrecken und sich einer solchen Situation ausgeliefert fühlen. Wer mit einer sich dauernd verändernden Welt konfrontiert ist, aber kein Wissen darüber besitzt, dass es anders kommen könnte als erwartet, lebt in einer Gefühlswelt, die zu jeder Zeit ins Schwanken kommen kann. Kaum geht es einem gut, muss man wieder schreien, weil die Umwelt in Unordnung geraten ist, ohne es einem vorher deutlich vermittelt zu haben. Nicht vergessen gehen sollten die überwiegend ernsten, stillen, autistischen Kinder, welchen man kaum ansieht, wie sie sich fühlen. Wirken sie zusätzlich dazu noch «selbstgenügsam», schreien also nach innen und nicht nach aussen, kann dabei vergessen gehen, dass sie dennoch viel Unterstützung im Bereich der Strukturierung und Vorhersehbarkeit brauchen. Wurde ich angesprochen, habe ich aus Sicht anderer nicht rasch genug reagiert. Es war mir nicht möglich, im Voraus zu erkennen, wann genau ich angesprochen werden könnte oder dass es jemand unmittelbar vorhatte. Ich konnte mich auf einen zukünftigen Kontakt nicht vorbereiten, weil ich ihn nicht habe kommen sehen. Sprach mich jemand an, kam dies für mich wie eine plötzliche Flut. Wie aus dem Nichts heraus stachen Stimmen in meine Gehörgänge, was sich wie eine Art Stromschlag im Kopf anfühlte. Je nachdem war ich verängstigt, fühlte mich unter Druck gesetzt oder zutiefst verärgert. «Man solle mich in Ruhe lassen!» war mein persönlicher, kategorischer Imperativ bis ins Erwachsenenalter hinein. Geholfen hat er nicht, weil ich vergass, dies hörbar auszudrücken. Eines war klar: Je vorhersehbarer die Umwelt war, je vorhersehbarer sie mir erklärt wurde, umso vorbereiteter und kompetenter fühlte ich mich. Und umso zufriedener. Bis heute. ■

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