KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2023

03 / 2023 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 23 Insgesamt war die Zeit bis und mit der 4. Klasse sehr turbulent und energieraubend. Kein Schultag verging, an dem nicht eine Sprachnachricht oder eine Mail im Postkasten gelandet war, ständig waren wir auf Abruf bereit. Ab der 5. Klasse konnte Levan in die Privatschule Olten, Abteilung Förderung (auch bekannt unter dem Namen Interlink) wechseln, eine Schule, die sich unter anderem auf die Beschulung von Kindern im Autismus-Spektrum spezialisiert hat. Mittlerweile ist Levan in der 2. Oberstufe in der Privatschule Olten, wo er sich sehr aufgehoben fühlt und ihm der seinen Bedürfnissen angepasste Rahmen für seine weitere Entwicklung geboten werden kann. Herausfordernd ist es nach wie vor, wohl auch für die Lehrerschaft, doch die Haltung ist ermöglichend, nicht auf den Mangel fokussiert. Wie so häufig sind sich das erste und das dritte Kind ähnlich. Doch trotz der gleichen Diagnose (Asperger-Syndrom) könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein – es ist halt wirklich ein Spektrum. Jorin ist ausgesprochen sozial und hilfsbereit und mit seiner jüngeren Schwester Ilvi ein Herz und eine Seele. Er lässt sich sozial motivieren und geniesst es, wenn man ihm seine Verschrobenheiten (nicht gerne mit anderen essen, vor allem aber nicht das Gleiche) nicht übelnimmt. Bei Jorin ist die Geschichte etwas kürzer erzählt. Wir hatten unser Zuhause und unseren Alltag schon so gut als möglich den Bedürfnissen unserer (aller) Kinder angepasst und die Lehrpersonen der ersten Klassen wussten schon, dass Jorin einen grösseren Bruder im Spektrum hat, sodass bei ihm schon nach sechs Wochen Schluss war mit der Regelschule. Er konnte für die 1. und 2. Klasse auf der Schulinsel bleiben, wo er von einer hervorragenden Heilpädagogin und einer engagierten Schulassistenz begleitet/betreut/beschult wurde. Die 3. und 4. Klasse verbrachte Jorin in der neuen Klasse für Kinder im Autismus-Spektrum der HPSZ Olten (da mittlerweile doch mehr Kinder im Spektrum in der Region aufgetaucht waren, wurde mit einem separaten Klassenzug gestartet). Der Start war für alle erwartungsgemäss etwas holprig, aber die Lehrkräfte haben sich sehr Mühe gegeben und Jorin hat sich dort insgesamt sehr wohlgefühlt. Nun ist Jorin seit dem Sommer ebenfalls in der Privatschule Olten, ist dort sehr gut angekommen und integriert. In unserem Alltag schauen wir, dass wir einen mehr oder weniger gleichbleibenden Tages-/Wochenablauf haben, dass wir ausserordentliche Events, aber auch sich wiederholende Tätigkeiten (beispielsweise Duschen/ Baden) früh und mehrmals ankündigen, Zonen für den Rückzug vorhanden sind, wir mittlerweile relativ entspannt über das Essverhalten unserer Söhne hinwegblicken (und wir uns ab und zu auch etwas Leckeres nur für die Eltern gönnen), den (Erwartungs-)druck rausnehmen, die kleinen Probleme klein sein lassen. Dankbar sind wir über ein unterstützendes Umfeld, welches die Eigenheit unserer (aller) Kinder akzeptiert; Lehrkräfte, die die Stärken unserer (aller) Kinder anerkennen und fördern; eine Psycho- und eine Atemtherapeutin, die eine sehr gute Beziehung zu Levan aufbauen konnten; eine Kinderärztin, die auch bereit ist, die ärgerlichen, administrativen Dinge zu erledigen; Musiklehrerinnen, die unsere Jungs Musik machen lassen in ihrem Tempo und ohne Erwartungs- oder Übungsdruck und auch akzeptieren, wenn es mal nicht klappt mit dem Kommen. Über Slenyto®, das vor allem bei Jorin eine sehr gute Wirkung zeigt (Er konnte ohne Medikamente abends zwei Stunden wie ein Pingpongball durch die Wohnung hüpfen.). Die Tatsache, dass wir neben unseren beiden neurodivergierenden Kindern auch zwei neurotypische Kinder begleiten dürfen, hat uns sicher auch geprägt. Wir durften lernen, den gesellschaftlichen Erwartungen entgegenzutreten, die eigenen Erwartungen an uns und unsere Kinder unseren Möglichkeiten und denen unserer Kinder anzupassen, unsere Energien im Auge zu behalten. Wir lernen, dass weniger manchmal mehr ist und nicht zuletzt auch unserer Partnerschaft Sorge zu tragen, denn man ist nicht immer gleicher Meinung. Der Alltag mit Kindern im Autismus-Spektrum, sei es als Eltern oder auch in der Praxis als betreuende Kunsttherapeutin, betreuender Kinderarzt, barg/birgt für uns viele Herausforderungen und auch viele schöne und prägende Erfahrungen. Es braucht kreative Lösungsansätze für scheinbar alltägliche Situationen (think outside the box), eine hohe Selbstreflexion über die Tragweite/Wichtigkeit unserer Handlungen (reduce to the max) und ein vorausschauendes Zeitmanagement, um auch die nötige Kapazität (sowohl zeitlich als auch energetisch) zu haben. … und ein ganz grosses Anliegen von uns: hören Sie den Eltern zu, wenn sie von zu Hause berichten, sie sind Expertinnen. Es kann in der Arzt-Praxis ganz gut funktionieren und zu Hause krachen die Stühle… ■ Foto: Simone Riner

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