KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 03 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 20 Ich erinnere mich an mein eigenes Leben, seit ich zweieinhalb Jahre alt bin. Davor habe ich den Eindruck, mich an Mutters Hand, welche mich fütterte, zu erinnern: an weiche Karotten und Kartoffeln mit der Gabel zerdrückt, bis sich daraus ein gelblich-rötlicher Brei ergab. Ich erinnere mich an den Geruch dieses Essens und an die Farben. Bis heute ist dies eines meiner visuellen und gustatorischen Lieblingsessen. Wenn Mutter mich morgens früh aus meinem Bett hob, schlug ich als erste Tätigkeit «Abstauben» vor. Ich wischte dann mit einem Tuch über das Büchergestell. Heutzutage kommt mir das morgens nicht mehr als Erstes in den Sinn. Spielen im Kindesalter gelang mir nicht. Es wirkte auf mich wie lustloses Agieren und kreative Ideen fehlten vollständig. Dafür konnte ich über lange Zeit Gegenstände anschauen. Vater sagte, ich hätte oft am Boden gesessen und kleine Zweige oder ein Blatt ungewöhnlich lange und nahe vor meine Augen gehalten. Details erfasse ich bis heute einfacher als den Überblick. Gesprochen habe ich selten, obwohl ich es mit zwei Jahren in ganzen Sätzen konnte. Um gelingend kommunizieren zu können, muss man das Konzept von Kommunikation verstanden haben. Ich wusste lange nichts darüber. Kommunizieren heisst ein Bedürfnis mitzuteilen, etwas Beobachtetes mitzuteilen, etwas Gehörtes weiterzugeben: über etwas sprechen zu können, das man selbst noch nicht sieht («Wo ist der Spielplatz?»), über etwas, welches jemand anderen betrifft («Er ist traurig») oder über etwas zu sprechen, das man von einem anderen Menschen gehört hat («Sie sagte, sie hätte eine Wespe auf dem Apfel gesehen»). Ich fragte nicht, wo ein Spielplatz ist; ich sagte nicht, wie sich ein anderer Mensch fühlt oder fühlen könnte und ich berichtete nicht, wer mir was gesagt hatte. Warum nicht? Es gab mich und es gab die Anderen. Und zwischen mir und den Anderen gab es lange Zeit keine direkte, klare und offensichtliche Verbindung. Wenn ein autistisch wahrnehmendes Kind ein Glas nicht als Ganzes sieht, sondern lediglich einen Ausschnitt davon, beispielsweise eine Luftblase, die im Glasboden eingeschlossen ist, wird es, wenn es diese anschaut, nicht verstehen, was damit gemeint ist, wenn jemand anderes sagt: «Das ist ein Glas.» Der Zusammenhang zwischen dem, was das Kind sieht, nämlich der eingeschlossenen Luftblase und dem, was das Gegenüber sagt («ein Glas»), hat keinen unmittelbar sinnvollen Zusammenhang. Somit macht es aus Sicht des Kindes Sinn (und ist sogar energiesparend), nicht zuzuhören, sich abzuwenden und sich stattdessen mit EiLIC. PHIL. MATTHIAS HUBER AUTISMUSSPEZIALIST, AUTISMUSBERATUNGSSTELLE DER STIFTUNG KIND & AUTISMUS IN URDORF Korrespondenzadresse: matthias.huber@ kind-autismus.ch Autismus: Autobiografisches und ein paar Gedanken genem weiter zu beschäftigen. Weil die Dinge, die benannt und erklärt werden, in der Wahrnehmung eines autistischen Kindes nichts mit seiner eigenen Welt zu tun haben. Ich erinnere mich daran, dass Worte und Sätze von anderen zwar präsent waren, jedoch oft über mir oder um mich herum zu schweben schienen. Sie schafften es nicht, mich als «mich» zu berühren oder mich in eine Richtung zu bewegen, weder motorischäusserlich noch innerlich-gedanklich. Foto: Jörg Huber Im Alter zwischen etwa zwei bis sechs Jahren mochte ich diese aufziehbaren, blechernen Spielzeuge, welche sich im Kreis bewegen. Ich legte mich seitlich flach auf die Erde, den Kopf auf dem Boden, und schaute aus den Augenwinkeln, wie sie sich im Kreis drehten. Das laute Rattern war Tatsache, trotzdem nahm ich in diesem Augenblick der vollkommenen visuellen Entspannung keine Geräusche mehr wahr. Dafür die Bewegungen der kleinen Motorräder oder Fahrräder, und zwar so klar und präzise, dass ich diese Bewegungsabbildungen sanft in meinem Gehirn spürte. Heute noch beruhigt mich das Erinnern an diese Erlebnisse und es wird mir warm ums Gehirn. War ich mit Kindern unterwegs, schaffte ich es nicht, sie voneinander zu unterscheiden und auf deren Zeigegesten zu reagieren. Menschen waren wie unkontrollierte, laute, hüpfende Kreisel. Ich ging ihnen visuell aus dem Weg.

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