KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 02 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 28 deutliche Verlangsamung der Progression nach Atropingabe bei Myopieentwicklung nachgewiesen. Die in dieser ATOM-1-Studie verwendete 1%-ige Konzentration brachte jedoch Blendeempfinden und Akkommodationsbeschwerden als Nebenwirkungen mit sich und es zeigte sich ein Reboundeffekt. Damit ist eine sehr rasche Zunahme der Myopie nach Absetzen der Therapie gemeint. Deshalb wurde diese Option nicht weiter verfolgt. In der Folgestudie ATOM 2, 20127, wurden niedrigere Konzentrationen von 0.5%, 0.1 und 0.01% untersucht. Hierbei zeigte sich ebenfalls eine signifikante Wirkung auf die Progressionshemmung bei deutlich weniger Nebenwirkungen und kleinerem Reboundeffekt. Nach einer weiteren randomisierten und verblindeten Studie mit verschiedenen Konzentrationen benutzen wir aktuell jeweils eine Atropin-Konzentration von 0.02% als Medikament der ersten Wahl bei der Indikation einer progredienten Myopie im Schulalter. Diese Konzentration kann, je nach Verlauf, auf 0.05 % erhöht oder auch auf 0.01 % reduziert werden. Mit dieser Therapie sollen keine spürbaren Nebenwirkungen verbunden sein, ansonsten muss die Therapie überdacht werden. Die damit verbundene reduzierte Akkommodation ist bei Kindern mit viel Akkommodationsreserve kein Problem und die minimal weitere Pupille führt ebenfalls zu keiner bekannten Nebenwirkung. Das Medikament wird in der Schweiz zwar nur «off label» benutzt, die Krankenkassen übernehmen die Kosten aber jeweils, da die Kriterien der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit erfüllt zu sein scheinen. Der Wirkungsmechanismus von Atropin ist nach wie vor unklar. Man geht heute davon aus, dass Atropin das Dopaminsignaling in der Netzhaut beeinflusst und dadurch das Wachstumssignal blockiert wird. In der Kosten-Nutzen-Analyse schneidet unseres Erachtens die Atropin-Therapie am besten ab. Dies, weil der Nutzen gut evidenzbasiert ist, die Kosten sich im Rahmen halten und keine bekannten Risiken damit assoziiert sind. Neben Atropin gibt es auch spezielle progressionshemmende Kontaktlinsen, bei welchen eine gute Wirkung erzielt werden konnte. Die Studienlage ist zwar nicht so gut wie für Atropin mit mehreren verblindeten und randomisierten Studien, aber wenigstens für die ÜberNacht-Kontaktlinsen (Ortho-K) gibt es eine grosse Anzahl von Studien mit sehr ähnlichen Ergebnissen. Dieser Linsentyp ist eine Alternative zu den Atropin-Tropfen und eine gute Wahl bei Kindern, die ohnehin Kontaktlinsenträger sind. Seit einiger Zeit gibt es auch Brillengläser mit kleinen hyperopen Segmenten, wie kleine Lupen, welche rund um die optische Achse angeordnet sind. Diese Gläser zeigen in ersten Studien eine gute Wirkung auf die Progression. Die Resultate wurden aber noch nicht reproduziert. Für alle anderen optischen Hilfsmittel gibt es heute keine überzeugenden Daten, welche die Wirksamkeit belegen. Uns scheint, dass bei vielen Marketingaktivitäten der Wunsch nach Wirksamkeit wesentlich grösser ist als die tatsächliche Faktengrundlage. Gar keine wissenschaftliche Evidenz gibt es für die Wirksamkeit aller Arten von Übungen und Augentrainings. Schlussfolgerung Hohe Myopie ist gemäss WHO eine der häufigsten Ursachen für Blindheit8. Es ist unbestritten ein herausragender Risikofaktor für eine Vielzahl von Augenerkrankungen. Die Häufigkeit und die Schwere der Erkrankungen hängt von der Ausprägung der Myopie ab. Myopie-Prävention zur Verhinderung dieser Komplikationen ist deshalb wichtig. Wir empfehlen regelmässigen Aufenthalt im Freien, Naharbeitsabstand von ca. 40cm und regelmässige Pausen bei Naharbeit. Ist eine Myopie bekannt und nimmt sie zu, empfehlen wir, eine Therapie in Erwägung zu ziehen. Es gibt wirksame Massnahmen. In erster Linie kommen für uns stark verdünnte Atropin-Augentropfen 1× täglich zur Nacht für den Zeitraum von Jahren infrage. Alternativ halten wir auch einen Therapieversuch mit myopieverlangsamenden Brillengläsern und Kontaktlinsen, vor allem Ortho-K-Linsen, für sinnvoll. Ganz pragmatisch halten wir uns an den Grundsatz: Wer heilt, hat recht. Wobei wir uns in diesem Fall statt mit einer Heilung mit einem Progressionsstopp sehr zufrieden geben. Auch wenn die Myopieprävalenz in der Schweiz vielleicht weniger zunimmt als manche glauben und sich in mittlerer Zukunft, dank besserer Prävention, hoffentlich sogar rückläufig entwickelt: das Thema des Myopiemanagements boomt. ■ QUELLEN 1. Lindner K. Zur Geschichte der Kurzsichtigkeit von Kepler bis Arlt. Klin Monatsbl Augenheilkd 1941; 107: 320-328 2. Cohn H. Untersuchungen der Augen von 10 060 Schulkindern nebst Vorschlägen zur Verbesserung der den Augen nachtheiligen Schuleinrichtungen. Eine ätiologische Studie. Leipzig: Friedrich Fleischer; 1867 3. Guggenheim JA, C Williams, K Northstone, LD Howe,K Tilling, B St Pourcain, et al. Does vitamin D mediate the protective effects of time outdoors on myopia? Findings from a prospective birth cohort. Invest Ophthalmol Vis Sci 2014; 55 (12): 8550–8558. 4. Williams KM, G Bertelsen, P Cumberland, C Wolfram, VJ Verhoeven, E Anastasopoulos, et al. Increasing Prevalence of Myopia in Europe and the Impact of Education. Ophthalmology 2015; 122 (7):1489–1497. 5. Dolgin E. The myopia boom. Nature. 2015 Mar 19;519(7543): 276-8. doi: 10.1038/519276a. PMID: 25788077. 6. Milly S. Tedja et.al. Genome-wide association meta analysis highlights light induced signaling as driver for refractive error, nature genetics 28.05.2028 50, 834-848 7. Chia, Audrey, Wei-Han Chua, Li Wen, Allan Fong, Yar Yen Goon, and Donald Tan. Atropine for the Treatment of Childhood Myopia: Changes after Stopping Atropine 0.01%, 0.1% and 0.5%.” American Journal of Ophthalmology 157, no. 2 (February 2014): 451-457.e1. https://doi.org/10.1016/j.ajo.2013.09.020. 8. Resnikoff S, D Pascolini, SP Mariotti and GP Pokharel. Global magnitude of visual impairment caused by uncorrected refractive errors in 2004. Bull World Health Organ 2008;86(1):63–70.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx