KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 02 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 26 In den letzten Jahren ist eine exponentiell wachsende Anzahl an Fach- und Laienpublikum-Artikeln zum Thema Myopie und Myopieprogression erschienen. Der Grundtenor, insbesondere in der Laienpresse, ist der folgende: die Myopie-Prävalenz ist massiv steigend, damit steigen auch die myopiebedingten okulären Erkrankungen. Die Ursache für den Prävalenzanstieg wird in den Verhaltensweisen unserer Kinder vermutet, welche zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbringen, einhergehend mit einem erhöhten Konsum von Tablets und Handys. Von verschiedenen Akteuren wird Betroffenen und ihren Eltern eine zunehmende Anzahl von therapeutischen Möglichkeiten präsentiert. Von Kontaktlinsen über spezielle Brillengläser, Augenübungen, Verhaltensweisen und Augentropfen wird behauptet, es könne die Entwicklung der Myopie verlangsamen oder stoppen. In diesem Übersichtsartikel möchten wir den aktuellen Stand des Unwissens und die therapeutischen Möglichkeiten diskutieren. Was ist Myopie? Myopie ist in der grossen Mehrheit der Fälle eine Achsenmyopie, das heisst, sie entsteht durch ein zu langes Auge, sodass der Brennpunkt vor der Netzhaut zu liegen kommt. Durch diese Fokusverlagerung kommt es zu einem unscharfen Fernbild. Dieser Abbildungsfehler kann durch Vorschalten einer Brille, Kontaktlinse oder Ähnlichem korrigiert werden. Neugeborene weisen üblicherweise eine moderate Hyperopie auf, das heisst, deren Auge ist zu kurz. Mit zunehmendem Alter und zunehmendem Augenlängenwachstum reduziert sich die physiologische Hyperopie bis zum Normalzustand der Emmetropie. Wächst das Auge jedoch weiter in die Länge, entsteht eine Myopie. Auch wenn der Mechanismus des übermässigen Längenwachstums nicht ganz geklärt ist, geht man heute davon aus, dass ein hyperoper Defokus in den Netzhautbereichen ausserhalb der Fovea zentralis das Signal für das Längenwachstum gibt. Üblicherweise beginnt eine Myopie im Schulalter, wobei das Augenlängenwachstum schwach mit dem Körperwachstum korreliert. Nach dem initialen Auftreten hat die Myopie eine Progressionsphase, welche viele Jahre dauern kann. Im jungen Erwachsenenalter ist bei der Mehrheit der Patienten ein stabiler Zustand erreicht, danach ändern sich die Refraktion und die Augenlänge nicht mehr wesentlich. Geschichte Bereits im 17. Jahrhundert vermutete Johannes Kepler, dass Lesen bei schlechtem Licht zu Myopie führen kann1. Und 1892 zeigte Hermann Cohn in Tübingen den Einfluss von Bildung auf die Myopie. Er fand eine Myopie in DR. MED. ELISABETH GRAEFF FACHÄRZTIN FÜR OPHTHALMOLOGIE UND AUGENCHIRURGIE FMH, vue.AUGENZENTRUM BIEL, EISENGASSE 11, 2502 BIEL www.vuecenter.ch Korrespondenzadresse: e.graeff@vuecenter.ch PD DR. MED. DR. SC. NAT. MATHIAS ABEGG FACHARZT FÜR OPHTHALMOLOGIE UND AUGENCHIRURGIE FMH, ONOVIS AUGENPRAXIS, BERN www.onovis.ch UND AUGENKLINIK, UNIVERSITÄTSSPITAL, ZÜRICH Korrespondenzadresse: mathias.abegg@hin.ch Kurze Übersicht zur Kurzsichtigkeit: Myopie-Update der Hälfte der Abiturienten und bei 79% der Theologiestudenten. Daraus zog er den Rückschluss, dass Sonnenlicht sowie die Naharbeit einen Einfluss auf eine Myopieentwicklung haben. Vor 130 Jahren wurde durch Herrn Cohn sogar eine Therapie mit Atropin zur Stabilisierung der Myopie angewandt. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass 4 Wochen Ferien effektiver seien2. Eine Abnahme der Myopie konnte jeweils bei ökonomischen Krisen und Kriegen verzeichnet werden, da während dieser Zeit die Bildung der Kinder nicht im üblichen Mass stattfinden konnte2. Zwischen 1950 und 1990 stieg die Zahl der Myopen erneut an, um sich danach bis zur Gegenwart zu stabilisieren. Dieses Wissen geriet in Vergessenheit und bis vor wenigen Jahren galt das praktische Dogma, dass Myopie eine schicksalhafte Erkrankung sei, welche nicht zu beeinflussen wäre. Entsprechend wurde das Thema Myopie lange Zeit auch von augenärztlicher Seite stiefmütterlich behandelt. Erst mit dem Anstieg der Myopieprävalenz zwischen 1950 und 1990, dem Aufkommen von therapeutischen Optionen in den letzten 10 Jahren und der zunehmend drängenden Frage nach Prävention ist das Interesse wieder gestiegen. Optiker, Optometristen, Brillen- und Kontaktlinsenproduzenten bearbeiten das Thema viel proaktiver als die Ärzteschaft. Umweltfaktoren und Epidemiologie Seit vielen Jahren ist bekannt, dass Umweltfaktoren einen Einfluss auf die Prävalenz von Myopie haben. Ein altbekannter und vielfach reproduzierter Risikofaktor ist der Bildungsstand (siehe oben). Es gibt eine Korrelation von Bildung und Myopie. Später wurde klar, dass wenigstens ein Teil der Myopieentstehung auf mangelnde Statt auf den grossen TV Bildschirm schauen Kinder lieber aufs nahe mobile Gerät Foto: Cassandra Bacher

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