KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 02 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 22 DR. MED. MARIA-REGINA KOMM FACHÄRZTIN FÜR OPHTHALMOLOGIE FMH, OBERÄRZTIN AUGENKLINIK, STADTSPITAL ZÜRICH Korrespondenzadresse: maria-regina.komm@ stadtspital.ch Eine funktionierende visuelle Wahrnehmung ist sowohl an die Entwicklung der Augen als peripheres Sinnesorgan gebunden, als auch an die Entwicklung der zentral-visuellen Verarbeitung1. In diesem Artikel wird punktuell auf die Entwicklung der primären Sehfunktionen, wie der Sehschärfe, des Stereosehens, des Kontrastsehens und des Gesichtsfelds eingegangen. Sehen lernen Die Entwicklung des kindlichen Sehens Zum Zeitpunkt der Geburt sind sowohl die Augen als auch die zentral-visuelle Verarbeitung noch unreif1. Die Untersuchung dieses Vorgangs erfolgte vor allem seit den 1960er-Jahren. Sehr wichtig für die Forschung in diesem Gebiet war das Preferential-Looking-Paradigma, welches 1961 durch Robert Fantz, einen amerikanischen Entwicklungspsychologen, eingeführt wurde. Mittels einer «Looking Chamber» wurden Babys bei der Blickzuwendung auf interessante Objekte beobachtet und ihre Reaktionen ausgewertet2. Bei den im Folgenden aufgezeigten Ergebnissen müssen wir uns vor Augen halten, dass diese nur die Resultate sind, welche mit Testverfahren erhoben werden können, sie aber nicht zwingend der morphologischen Realität entsprechen müssen. Zumindest haben wir mit den Messergebnissen aber Hilfsmittel, mit denen wir die Entwicklung einschätzen und nicht altersentsprechende Entwicklungen davon abgrenzen können. Zentral sind die Entwicklung der primären Sehfunktionen, wie der Sehschärfe, des Stereosehens, des Kontrastsehens und des Gesichtsfelds. Eine Störung dieser Funktionen kann Entwicklungsstörungen in den sekundären Sehfeldern, welche unter anderem die Propriozeption, die Objekt- und Gesichtserkennung, wie auch die Visuomotorik verarbeiten, hervorrufen. Die Sehschärfe Die postnatale Reifung des Auges bis zur Sehrinde spielt eine zentrale Rolle. Die Sehschärfe spiegelt die Funktionalität von der Fovea bis zu einem grossen Teil des primären visuellen Cortex wider; bei der Messung der Sehschärfe wird also der gesamte visuelle Pathway gemessen. Die Sehschärfe ist teilweise durch die Unreife der Fovea bedingt, welche ihre histologische Reife erst im ca. 3. Lebensjahr erreicht3. Die Myelinisierung des Sehnervs dauert hingegen nur bis zum 2. Lebensjahr. Das Auflösungsvermögen des menschlichen Auges entwickelt sich während der ersten Lebensmonate sehr rasch. Die Sehschärfe liegt bei einem Neugeborenen bei ca. 0.05 und steigt schnell auf 0.3 bis 0.6 mit sechs Monaten. Die Sehschärfe bei 4–5-jährigen Kindern erreicht bereits 1.0–1.25 beim HOTV-Test. Zu beachten ist, dass je nach Testverfahren unterschiedliche Messwerte erreicht werden können4,5. Die Streuung der Sehschärfewerte bei visuell unauffälligen Säuglingen und Kleinkindern bis zum 18. Lebensmonat ist erheblich grösser als die Streuung bei älteren Kindern oder Erwachsenen. Dies ist bei der Beurteilung von pathologischen Fällen zu beachten4. Das Kontrastsehen Im Alltag ist man konfrontiert mit Seheindrücken mit den unterschiedlichsten Kontrasten. Normalerweise testet man die Sehschärfe mit sehr hohem Kontrast, weswegen wichtige Informationen über das Kontrastsehen verloren gehen. Patienten mit z. B. einer Amblyopie, retinalen Degenerationen oder demyelinisierenden Erkrankungen des Sehnervs haben ein vermindertes Kontrastsehen. Diese Personen benötigen im photopischen Leuchtdichtebereich einen höheren Kontrast als visuell ungestörte Personen. Die Kontrastempfindlichkeit ist abhängig von der Feinheit der betrachteten Strukturen. Durch SchwarzWeiss-Streifenmuster unterschiedlicher Feinheit und mit abnehmendem Kontrast lässt sie sich systematisch messen. Misst man die Kontrastempfindlichkeit für verschiedene Ortsfrequenzen, ergibt sich im Normalfall eine bogenförmige Kurve. Bei Kindern ist diese Kontrastempfindlichkeitskurve deutlich niedriger und steigt langsam im Verlauf der Entwicklung an. Die Ausbildung des Kontrastsehens reicht bis in die Teenagerjahre5,6,7. Das Stereosehen Eine sehr wichtige Qualität des Sehens ist das Stereosehen, welches eine höhere Sehfunktion darstellt. Unter der Stereopsis versteht man die relative Tiefenwahrnehmung aufgrund querdisparater Netzhautbilder. Stereosehtests sind z. B. wichtig bei der Erkennung von Amblyopie und Strabismus8. Die Entwicklung des Stereosehens ist gut untersucht worden. Ab der 16. Lebenswoche kann ein erstes Stereosehen nachgewiesen werden und ab 21 Wochen ist das Stereosehen eine Winkelminute oder besser. Es dauert nun die gesamte Kindheit, bis das Stereosehen komplett ausgereift ist. Bei Siebenjährigen kann im Randot-Stereotest ein Stereosehen von ca. 40 Winkelsekunden nachgewiesen werden. Gesunde Erwachsene erreichen 5–10 Winkelsekunden5. Die dunkel-adaptierte Erkennungsschwelle Die Fähigkeit, schwache Lichter im Dunkeln zu erkennen, entwickelt sich in der frühen Kindheit. Die Untersuchung erfolgt mittels modifizierten Preferential- Looking-Tests nach einer Zeit der Dunkeladaptation. Die

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