KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2023

01 / 2023 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 27 schungsfragen geschaffen6. Die vierte Perspektive war somit auch ein Katalysator für die Kinderrechts- und Behindertenrechtskonvention7. Das Formulieren dieser Rechte und Forderungen ist aber nicht als abgeschlossene Entwicklung oder Vergangenheitsbewältigung zu verstehen. Vielmehr liegt darin ein anhaltender Auftrag an die Gesellschaft und an uns Kinderärztinnen, die Bedingungen für die Kinder und ihre Familien laufend zu prüfen und zu verbessern. Die Werte und Prinzipien der Kinder- und Behindertenrechte beinhalten die Teilhabe am «vollen» Leben, dem Schutz vor Schaden und Schmerz sowie der Förderung einer angemessenen Entwicklung (einfach zu merken mit den drei englischen P: participation, protection, provision)8. So kann der Kinderarzt durch Vermittlung erster Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen, aber auch bei Schuleintritten oder in der Vorbereitung von Spitalaufenthalten eine wichtige Schnittstelle für die Familien werden9–12. Gerade für Spitalaufenthalte gibt es die Möglichkeit eines Betreuungsplans (siehe www.pallivia.ch/fachpersonen), um die individuellen Bedürfnisse des Kindes und der Familie, aber auch die Rollen und Erreichbarkeiten der beteiligten Fachpersonen und Helfenden für andere Fachpersonen festzuhalten. Von Familien oftmals sehr geschätzt werden bei komplexen Fragen auch Rundtischgespräche, in welchen die verschiedenen Sichtweisen und Kompetenzen sowie die Bedürfnisse und Aufgaben aller Beteiligten sichtbar gemacht und auf mehrere Schultern verteilt werden können. Und welche Rolle besitzen nun die Kinderärztin und die Gesellschaft in Bezug auf die pränatale Testung? Die Debatte um die pränatale Diagnostik und die oftmals (aber nicht zwingend) damit zusammenhängende Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch wurde nach Übernahme des NIPT durch die Krankenkassen 2014 noch weiter aufgeheizt. Über die teilweise fundamentalistisch geführte Diskussion zum Thema der moralischen Bedeutung eines Embryos und dem Beginn des Lebens hat sich bereits Aristoteles vor 2500 Jahren den Kopf zerbrochen. Auch heute und in Zukunft ist in einem mit Werten getränkten Faktenstreit, wann das Leben überhaupt beginnt, nicht mit einer einzigen richtigen Antwort zu rechnen. Während sich das Christentum heute an Biologismen hält, welche die Kernverschmelzung als Startpunkt für das menschliche Leben sehen, erkennt das traditionelle Judentum erst nach 40 Tagen und der Islam nach 120 Tagen den Embryo als menschliches Lebewesen an. Die Brücke zwischen der Feststellung von biologischem Leben und den moralisch-religiösen Schutzforderungen ist typischerweise auf vier Argumentationspfeilern gebaut: der Spezieszugehörigkeit (Besonderheit der Würde des Menschen), dem Potenzialitätsargument («Vorstufe zum Menschsein» mit denselben Rechten wie das «fertige Produkt»), dem Kontinuitätsargument (ununterbrochene Entwicklungslinie zwischen «Zellhaufen» und «fertigem» Menschen) und dem Identitätsargument (selbe Identität von Embryo und späterem Mensch). Alle vier Argumente haben Schwächen und erzeugen Paradoxien, wenn man sie zu Ende denkt (z. B. müssten Frauen, bei Gültigkeit und Verallgemeinerbarkeit der Argumente, ab Befruchtung einen für sie maximal einschränkenden Schutz mit nötigenfalls intensivmedizinischen Massnahmen in Kauf nehmen, damit sichergestellt wird, dass ja kein Embryo durch suboptimale Bedingungen «getötet» wird). Dies führt auf eine zweite Ebene, in welcher sich zwei Prinzipien im Konflikt gegenüberstehen und gegeneinander abgewogen werden müssen: einerseits das Prinzip (beginnendes oder potenzielles) Leben zu schützen und andererseits das Prinzip der Autonomie der Mutter («mein Bauch gehört mir») aufrechtzuerhalten. Auf einer dritten Ebene liegen sich dann zwei grosse ethische Theorien in den Haaren: Die Pflichtenethik (griechisch Deontologie) und die Nutzenethik (lateinisch Utilitarismus). Während die Pflichtenethik oft mit der Würde des Menschen und der Heiligkeit des Lebens argumentiert, nutzt der Utilitarismus das konkrete (ggf. potenzielle) Leiden eines Kindes sowie dessen (voraussichtliche) Lebensqualität, aber auch das Glück und die Belastung der Familien, um auf die Nützlichkeit und moralische Rechtfertigung einer Handlung zu schliessen. Beide sind aus ihrer Position heraus nicht in der Lage, aufeinander zuzugehen. Das Resultat sieht man jährlich an verhärteten Fronten zwischen dem «Marsch fürs Leben» und den obligaten Gegendemonstrationen. Die ganze Argumentationskette, ob mit Fundamentalismus oder als angeregte, ergebnisoffene Diskussion geführt, endet letztlich in einem Zirkelschluss, in dem der Mensch sich und seine Bedeutung auf dieser Welt selbst definiert und sich und seinen Lebenssinn wie der Baron von Münchhausen selber an den Haaren aus der indifferenten «Ursuppe» des Lebens zieht: Es bleibt immer eine (persönliche) Voraussetzung, die wir voraussetzen müssen, wenn es um uns, unsere «Würde» und unseren «Sinn» geht. Aber zurück zur Frage, was die professionelle Rolle eines Kinderarztes in dieser Debatte und grundsätzlich für Familien mit einem (potenziellen) Kind mit Trisomie-21

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