KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 01 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 26 PD DR. MED. JÜRG C. STREULI MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, OBERASSISTENT AM INSTITUT FÜR BIOMEDIZINISCHE ETHIK DER UNIVERSITÄT ZÜRICH UND LEITENDER ARZT UND CO-LEITER DES PÄDIATRISCHEN ADVANCED CARE TEAMS (PACT) AM OSTSCHWEIZER KINDERSPITAL Korrespondenzadresse: streuli@ethik.uzh.ch Ethik und Trisomie-21 Probleme im psychologisch-psychiatrischen Spektrum, beispielsweise die hohe Prävalenz an schweren Depressionen und aggressivem Verhalten, sowie einer frühen Form von Demenz. Die Therapieoptionen und Erfolge auch bei kombinierten Fehlbildungen haben sich in den letzten Jahren stark verbessert4. Trotzdem ist umfassende, lebenslange Begleitung der gesundheitlichen Aspekte durch spezialisierte Kombisprechstunden nötig. Der dritte Blick richtet sich auf die Integration, wo es grosse lokale Unterschiede und teils empfindliche Lücken an schulischen und sozialen Angeboten gibt. Daraus entsteht eine Mehrbelastung für Eltern, welche oft als Case Manager in eigener Sache mit zahlreichen Terminen von Therapien, Behandlungen und Vorsorgen konfrontiert sind. «Integration» ist ein grosses Wort, das eine lebensweltliche und schulische Annäherung von Kindern mit und ohne Förderbedarf umschreibt und für sich eine eigene Wertedebatte mit juristischem Boden mit sich bringt. So unterstreicht der 2022 aktualisierte Schattenbericht für Rechte von Menschen mit Behinderungen, dass es in der Schweiz trotz offensichtlicher Diskriminierung keinen Anspruch auf integrative Beschulung gibt. Gleichzeitig wurde in der Vergangenheit möglicherweise auch die offene Diskussion von (negativen und positiven) Veränderungen für die Kinder ohne zusätzlichen Förderbedarf bei Integrationsprojekten vernachlässigt5. Der vierte und schwierigste Blick stammt von einem Januskopf, der gleichzeitig in zwei Richtungen schaut. Der Blick des einen Gesichts richtet sich mit Grauen auf eine Vergangenheit, in welcher Menschen mit Trisomie- 21 und anderen geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen von der Gesellschaft ausgestossen oder sogar getötet wurden, bis hin zu einer systematischen Ermordung von «lebensunwertem Leben» im Nationalsozialismus, auch unter aktiver Mitwirkung von Kinderärzten und Kinderspitälern. In der Folge waren Kinder mit besonderen Bedürfnissen innerhalb einer ganzen Generation nahezu unsichtbar, was unseren Umgang auch mit Menschen mit Trisomie-21 bis heute prägt. Auf der anderen Seite blickt das Gesicht fordernd in eine Zukunft, in der Kinder mit besonderen Bedürfnissen Akzeptanz und Unterstützung erfahren sollen. Mit diesem Ziel wurden im Urteil des Nürnberger Ärzteprozesses (1946/1947) mit dem Nürnberger Kodex Tatsachen für die informierte Einwilligung, einen umfassenden Schutz auf Körperintegrität und auf Autonomie oder das Kindeswohl in allen medizinischen Handlungen und ForSucht man im Internet nach Ethik und Trisomie-21, stösst man fast ausschliesslich auf die Debatte über den (in der Schweiz seit 2012 verfügbaren) nicht-invasiven pränatalen Test (NIPT) und die Tatsache, dass etwa neun von zehn Eltern nach einem positiven Test den Weg eines Schwangerschaftsabbruchs gehen. Doch ist dies nur ein Aspekt in einer komplexen, vielfältigen und emotional geführten Diskussion, welche, wenn man sie konsequent und respektvoll behandelt, unabhängig von einer getroffenen Entscheidung, in einem grossen Staunen über das Wunder des Lebens mündet. Aber dazu später. Zuerst hilft die Ethik, als Reflexion über Moral, die vielen Aspekte einer Diagnose mit Trisomie-21 aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Werten zu betrachten1. Ein erster Blick öffnet uns die Sicht auf offenherzige, lebensfrohe Kinder mit ihren erfüllten Familien, oft noch ergänzt durch medial beliebte Erfolgsgeschichten über kluge, theateraffine und gut integrierte Menschen. Dieser optimistisch-positive Blick, der sich am oberen Rand eines sehr breiten Spektrums ausrichtet, kann (werdenden) Eltern und der Gesellschaft helfen, einem Kind mit Trisomie-21 mit freudiger Erwartung, Akzeptanz und der nötigen Förderung zu begegnen. Der Fokus auf den oberen Referenzwert kann aber auch falsche Erwartungen und überhöhte Ansprüche, ja sogar Schuldgefühle und Überforderung, sowohl in der Familie als auch im sozialpädagogischen und therapeutischen System auslösen2. Es gibt nicht eine «Trisomie-21 Persönlichkeit». Kinder mit Trisomie-21 sind trotz vieler Ähnlichkeiten eigenständige Persönlichkeiten mit individuellem Charakter, eigenen Schwächen und Stärken, so wie wir es in der Pädiatrie ja auch von allen anderen Kindern gewohnt sind. Ein zweiter Blick zeigt Menschen, die aufgrund ihrer Trisomie-21 mit einem deutlich schwereren medizinischen, psychologischen und sozialen Rucksack durch ihr Leben gehen müssen und auch die moderne, hochspezialisierte Medizin weiterhin an ihre Grenzen bringen können3,4. Neben meist gut behandelbaren endokrinologischen und orthopädischen Besonderheiten sind Ösophagusatresien, tracheoösophageale Fisteln, schwere Herzfehlbildungen mit teils langen und leidvollen Aufenthalten auf der Intensivstation und mitunter schwierigen ethischen Entscheidungen leider nicht selten. Weniger sichtbar, aber ebenso gewichtig sind

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