Zenit Nr. 1. März 2024

Ein Lehrstück für Hitler «In München verinnerlichten frühe Nazis während der Lausanner Konferenz die Angst, wie die Armenier ausgelöscht zu werden, und zogen daraus den Schluss, Deutschland müsse seine Gegner präventiv vernichten. Die Armenier blieben für Adolf Hitler das Schreckbild eines inakzeptablen ‹jämmerlichen Daseins›. In einem Interview Ende Dezember 1922 prangerte er die Juden als Agenten des Bolschewismus an und forderte eine ‹Lösung der Judenfrage›, andernfalls werde das deutsche Volk elend und jämmerlich werden wie die Armenier. Der Hitlerputsch am 8./9. November 1923 war inspiriert durch Ankaras Erfolg: Die Vertreibung von Armeniern und Griechen durch eine autoritäre, ultranationalis- tische Regierung wurde international sanktioniert.» (HansLukas Kieser, «Nahostfriede ohne Demokratie», 2023.) Fazit Friedensschlüsse müssen von der Akzeptanz der jeweiligen Situation ausgehen. In Lausanne aber wurde eine durch Gewalt geschaffene Lage als letztgültige Wirklichkeit zementiert. Die Schweiz als Gastgeber-Staat ohne Stimmrecht machte dabei eine schlechte Figur: Während hierzulande die Minderheiten prinzipiell geschützt sind und zuvorkommend behandelt werden, setzten die damaligen Weltmächte auf das Recht des Stärkeren, sofern sich dies als wirtschaftlich vorteilhaft erwies, ohne jegliche Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten. Lord Curzon, Leiter der britischen Delegation in Lausanne, sagte damals: «Der Vertrag ist eine zutiefst schlechte und bösartige Lösung, für die die Welt in den nächsten hundert Jahren einen hohen Preis zahlen wird.» Hoffentlich finden zukünftige Friedensverhandlungen bessere Lösungen. Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 24 23 BLICK IN DIE GESCHICHTE Die Dekonstruktion einer vermeintlichen Friedensordnung Die Anerkennung der Türkei als Einheitsstaat brachte zwar eine diplomatische Stabilisierung. Aber es blieben zahlreiche Fragen ungelöst u. a. die armenische, die kurdische und die palästinensische. n Am 6. Januar 1923 plädierten die westlichen Delegierten zum letzten Mal für eine «armenische Heimat-Provinz in Anatolien unter türkischer Souveränität für die GenozidÜberlebenden». Die türkische Delegation boykottierte diese Resolution und verliess den Raum. Um die Konferenz zu retten, gaben die restlichen Delegierten nach. Die «Armenische Frage» war vom Tisch. Sie galt ohnehin durch den Vertrag von Moskau von 1921 als gelöst. Die Sowjetunion hatte damals ihre Grenzen mit der Türkei bereinigt und die «Armenische Sozialistische Sowjetrepublik» ausgerufen. Ein Zitat von Riza Nur, Vizechef und Seniordiplomat der Delegation Ankaras in Lausanne, spiegelt die türkische Haltung: «Für die Armenier gibt es keine Lösung ausser sich den schweren Konsequenzen ihres unnatürlichen Zustands zu unterziehen oder sich zum Islam zu bekehren oder zu verschwinden. Sie sind wie die Juden ein ... und zerstreutes Volk.» n Die in Lausanne anerkannte türkische Regierung bestand aus Männern, welche den Völkermord an den Armeniern organisiert hatten. n Den Türken gelang in Lausanne auch eine ethnische Säuberung, getarnt als «Bevölkerungsaustausch». Er betraf 0,4 Mio. griechischsprachige Muslime in Nordgriechenland und 1,5 Millionen anatolische Christen, die nach Griechenland zogen und ihr Land verloren. Das Kriterium für «Rasse» war die Religion. n Die Konferenz liess das Ziel einer multikulturellen Gesellschaft in der Türkei fallen, ebenso wie die Rechte kleiner Völker – ein Hohn für die Prinzipien des Völkerbunds und die Versprechen der Entente im 1. Weltkrieg. Lausanne 1923 – eine Sternstunde der Faschismen Die Konferenz breitete Mussolini die Arme aus, anerkannte Ankaras aufkommende Parteidiktatur und vernetzte Rechtsextreme wie den Schweizer Oberstbrigadier Fonjallaz, Vorsitzender der pro-türkischen «Société Suisse des amis de la Turquie» und Gründer der Schweizerischen Faschistischen Bewegung. Ankaras Erfolg gab den Nationalisten in Deutschland zu verstehen, dass sich mit militärischer Macht der Vertrag von Versailles revidieren liess und «rücksichtslose Nationalisierung» machbar war. Die Konferenz signalisierte im Nahen Osten, dass der Westen fortan Autokraten belohnte, solange sie strategisch und wirtschaftlich, insbesondere im Bereich Rohstoffe, zusammenarbeiteten. Allen war klar, dass das demokratische Zusammenleben und die Rechte schwächerer Gruppen dabei geopfert wurden. Mehr zum Thema in: Hans-Lukas Kieser, «Nahostfriede ohne Demokratie», 2023, ca. CHF 48.– Ethnologische Karte um 1910. In den Todesmärsche 1915/1916 wurden die Armenier aus der Türkei vertrieben. Über 1,5 Millionen Menschen kamen dabei um. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:AsiaMinor1910.jpg

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