Zenit Nr. 1, März 2022

Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 22 21 CARE-ARBEIT Ein wichtiger Treiber des Betreuungsbedarfs zu Hause ist ausserdem die politische Strategie «ambulant vor stationär». Diese Strategie stützt darauf, dass die freiwillige Care-Arbeit in Betreuungslücken springt. Das bringt vor allem Frauen, welche den grössten Teil der unbezahlten Sorgearbeit leisten, an Belastungsgrenzen, sorgt für Erwerbsausfälle und Löcher in deren Altersvorsorge. Worin besteht diese Sorgearbeit im Alter? Prof. Carlo Knöpfel von der FHNordwestschweiz unterscheidet hier drei Formen von Unterstützung. Mit Hilfe ist Unterstützung mit Dienstleistungscharakter gemeint, wie eine Wohnungsreinigung oder administrative Begleitung. Betreuungsarbeit setzt dort an, wo ältere Menschen Teile ihrer Selbstständigkeit verlieren und dank Betreuung Alltagsaktivitäten weiterführen können und so ihre Fähigkeiten und ihr soziales Netzwerk erhalten können. Sie ist entsprechend psychosozial ausgerichtet und benötigt Kompetenzen in der sozialen und kommunikativen Arbeit. Die Pflege ist medizinisch geprägt und zielt in erster Linie auf eine umfassende Körperpflege und Krankheitsbehandlung. Dabei ist klar, dass jede gute Pflege auch einen Betreuungsteil beinhaltet. Es gibt keine gute Pflege ohne Betreuung – es gibt aber sehr wohl eine Betreuung ohne Pflege. Betreuung deckt einen anderen Bedarf ab und setzt oft früher ein, als eine Pflegebedürftigkeit auftritt. Gerade bei diesen fliessenden Übergängen und der alltags- nahen Betreuung kommen oft die Angehörigen zum Zuge. Bundespolitik mit ersten kleinen Schritten 2014 hat der Bundesrat einen Bericht über die «Unterstützung für betreuende und pflegende Angehörige» veröffentlicht. Der Handlungsbedarf ist klar: Aufgrund der Mehrfachbelastung entstehen für viele Angehörige medizinische und finanzielle Einbussen. Es braucht bessere Informationen und den Ausbau von Entlastungsangeboten, wie Unterstützung durch Freiwillige oder Kurzaufenthalte in Alters- und Pflegeheimen. Zudemmuss die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung gefördert werden. Erste kleine Verbesserungen konnten mit dem 2021 in Kraft getretenen Gesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung realisiert werden, das u.a. die AHV-Betreuungsgutschriften ausweitet und den Anspruch verankert auf drei Tage Urlaub, wenn Familienangehörige akut Betreuung benötigen. Der neue Betreuungsurlaub von 14 Wochen bei Unfall oder Krankheit steht Eltern von betroffenen Kindern zu – nicht jedoch Personen, die ihre älteren Angehörigen begleiten. Darauf folgte das Förderprogramm «Entlastungsangebot für betreuende Angehörige 2017–2020», das Empfehlungen für die Unterstützung von betreuenden Angehörigen formulierte. Zentral dabei ist der Zugang und die Finanzierbarkeit von Betreuungsange- boten, die die Care-Arbeit der Nächsten ergänzt und entlastet. *Flavia Wasserfallen (1979) studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Medienwissenschaft. In einem Aus- tauschsemester studierte sie an der Universität Bologna mit Schwerpunkt Europapolitik. Von 2002 bis 2012 ge- hörte sie dem Grossen Rat des Kantons Bern an. Von 2006 bis 2010 amtete sie als Vizepräsidentin der SP-Fraktion. Am 29. Mai 2018 wurde sie als Nationalrätin vereidigt. Sie ist Mitglied der Kommission für Soziale Sicher- heit und Gesundheit, Präsidentin des Dachverbands Schwei- zerischer Patient:innenstellen sowie Präsidentin des Schwei- zerischen Fachverbands Mütter- und Väterberatung. Flavia Wasserfallen ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Bern. Mehr Infos unter www.flaviawasserfallen.ch Daran anknüpfend hat jüngst eine viel beachtete Studie der Paul Schiller Stiftung die ungelöste Finanzierung der Betreuung im Alter ins Visier genommen. Die Studie zeigt auf, wie hoch der ungedeckte Bedarf von Betreuung ist und formuliert Vorschläge, wie diese Lücken geschlossen werden könnten (siehe www.gutaltern.ch). All diese Studien und Initiativen machen deutlich: Wir müssen politisch sicherstellen, dass ein Altern in Würde für alle möglich ist. Wir müssen den Angehörigen die Entlastung und Unterstützung bieten, damit sie möglichst lange ihre Care-Arbeit leisten können – ohne selber einen hohen Preis zu bezahlen. Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass Betreuung von alten Menschen auch eine sehr herausfordernde und komplexe Aufgabe sein kann, für die es ein Zusammenspiel von Angehörigen, Freiwilligen und Professionellen braucht. Und wir müssen sicherstellen, dass der Zugang zu Betreuungsangeboten für alle gewährleistet ist. Mit Informationen, die alle erreichen, und einer Finanzierung, die es allen möglich macht. Konkrete politische Verbesserungen Zur Verbesserung der Situation von betreuenden Angehörigen sind alle Staatsebenen gefordert. Auf Bundesebene sehe ich die Ausdehnung des für Eltern von kranken Kindern eingeführten Betreuungsurlaubs auf alle betreuenden Angehörigen imVordergrund – damit gerade die oftmals besonders anspruchsvollen Krisensituationen nach einem Unfall oder einer Diagnose besser begleitet werden können. Die Ergänzungsleistungen sollen eine Bezahlung des betreutenWohnens in allenWohnformen – auch zu Hause – für tiefe Einkommen ermöglichen. Die Hilflosenentschädigung muss den heutigen Gegebenheiten angepasst werden und vergleichbar mit der Weiterentwicklung im IV-Bereich mehr zur Selbstständigkeit alter Menschen beitragen. Die Rezepte sind nicht einfach, aber Lösungen müssen gefunden werden. Und die Investition in eine Entlastung der betreuenden Angehörigen sowie der qualitative Ausbau und die Finanzierung unterstützender Betreuungsangebote lohnt sich für die ganze Gesellschaft.

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