KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2023

FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL 03 / 2023 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 18 1980 wurde im DSM-3 der Begriff der tiefgreifenden Entwicklungsstörung (pervasive developmental disorder PDD) eingeführt. Das Konzept «Autismus» wurde zu einer Spektrums-Störung, unklare Fälle wurden unter dem Begriff PPD-NOS (not otherwise specified) zusammengefasst. In der Revision des DSM (DSM3-R 1987) wurde der Begriff «frühkindlicher Autismus» durch «autistische Störung» ersetzt. Die Diagnose «Asperger-Syndrom» kam neu dazu. In der ICD-10 wurden ab 1994 diese Änderungen übernommen. Im ICD-11, das seit Anfang 2023 gültig ist, gibt es nur noch die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) mit Spezifizierungen bezüglich Sprache und kognitiver Entwicklung. Alle diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass eine sehr seltene Störung auf einmal nicht mehr so selten war, weil man die diagnostischen Kriterien verändert und das Spektrum dadurch erweitert hatte. Die Häufigkeit hatte sich verzehnfacht. Seither sind die Zahlen weiter gestiegen. Eine vorsichtige Einschätzung ergibt eine Häufigkeit von ca. 1–1,5 %. In den USA werden vom «Center for Disease Control» CDC alle 2 Jahre neue Zahlen veröffentlicht, die eine kontinuierliche Zunahme zeigen. 2020 lag in den elf beteiligten Zentren die durchschnittliche Häufigkeit einer ASS bei 2,8% (4,3% für Knaben, 1,1% für Mädchen). Der Range schwankte in den einzelnen Zentren aber zwischen 2,3–4,5 %. Im Jahr 2000 hatte die gleiche Studie noch eine Häufigkeit von 0,7 % ergeben, also eine Vervierfachung der Werte in 20 Jahren ohne signi- fikante Veränderung der diagnostischen Kriterien. Eine weitere Entwicklung in diesem Zeitraum ist interessant: 2000 waren weisse Kinder noch viel häufiger betroffen als Kinder von «people of colour». 2020 waren weisse Kinder zum ersten Mal seltener betroffen als afroamerikanische, hispanische oder asiatische Kinder. 38 % der Kinder hatten eine kognitive Beeinträchtigung mit einem IQ <70, 23% lagen im Bereich 71–85 und 39% hatten einen normalen oder hohen IQ (>85). Auch hier gab es grosse geografische Unterschiede, in Kalifornien hatten nur 22 % der Kinder einen IQ <70. DR. MED. RONNIE GUNDELFINGER FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND -PSYCHOTHERAPIE, KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE, ZÜRICH Korrespondenzadresse: ronnie.gundelfinger@pukzh.ch Während meiner Studienzeit (1973–79) und in meinen ersten Assistentenjahren galt der kindliche Autismus als seltene Störung. In Lehrbüchern wurde als Häufigkeit 4 bis 5 Kinder auf 10000 genannt, also 0,05%. Als ich in den 1990er-Jahren anfing, mich intensiver mit dem Störungsbild zu befassen, war die Häufigkeit auf 0,5–0,8% gestiegen. Was war passiert? Gibt es mehr autistische Kinder als früher? Eine persönliche, nicht rein evidenzbasierte Meinung Viele Zahlen, schwierig zu interpretieren. Auch europäische Studien zeigen einen Anstieg, allerdings auf tieferem Niveau. Leider gibt es für die Schweiz keine zuverlässigen Zahlen, obwohl aus Medien der Eindruck einer Autismus-Epidemie entstehen kann. Viele Fachpersonen würden diese Einschätzung teilen. Wie kann es bei einer Störung, die weitgehend genetisch bedingt ist, in so kurzer Zeit zu einer so massiven Zunahme kommen? Ich bin der Überzeugung, dass das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für das Thema «Autismus» bei Fachpersonen und Eltern in den letzten 20 Jahren dramatisch gestiegen und für den grössten Teil der Zunahme an «Fällen» verantwortlich sind. Bei Kindern, die vorher als «geistig behindert» bezeichnet worden waren, achtet man genauer auf autistische Symptome. Auch Kinder, die früher unter der Diagnose POS liefen oder die einfach im Alltag sehr grosse Probleme hatten und machten, werden auf Autismus abgeklärt. Daneben gibt es sicher eine reale Zunahme, weil sich bekannte Risikofaktoren stärker auswirken. Ein Beispiel ist das Alter der Eltern und bei ASS auch insbesondere das Alter des Vaters. Dieses Alter ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Ich glaube auch, dass Menschen aus dem autistischen Spektrum häufiger heiraten und Kinder bekommen als früher. Die sozialen Medien und die IT-Welt haben viele Kontaktmöglichkeiten geschaffen. Es gibt Hinweise, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum später heiraten, was dann wieder den oben erwähnten Faktor verstärkt. Sozial eher unbeholfene (autistische?) Männer heiraten Frauen aus dem Ausland. Ein weiterer Risikofaktor ist Migration. Studien an verschiedenen Orten der Welt haben gezeigt, dass Kinder aus Migrationsfamilien häufiger autistisch sind. Dabei geht es, je nach Ort, um verschiedene Ethnien. Es gibt bisher keine überzeugende Erklärung für diese Tatsache. In Zürich waren das zum Beispiel eine Zeit lang tamilische Kinder. Von Besuchen in der Stiftung «Kind und Autismus» in Urdorf, aber auch von heilpädagogischen Klassen in Zürich, habe ich den Eindruck erhalten, dass Kinder mit einem Migrationshintergrund deutlich übervertreten sind. In den letzten Jahren ist eine neue Migrationswelle dazugekommen: Hochqualifizierte IT-

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