Zenit Nr. 4, Dezember 2019

22 Pro Senectute Kanton Luzern 4 | 19 Die Schweiz – und insbesondere Luzern – hatte schon seit je eine Brückenfunktion zu Italien. Luzern nennt sich nicht umsonst – leicht pathetisch – das «Florenz des Nordens». Zahlreiche Baumeister, Maurer, Steinmetze und Stucka- teure aus Italien, dem Südtirol und dem Tessin errichteten hier den Ritterschen Palast (heutiges Regierungsgebäude), das Rathaus (eine Kopie des Palazzo Strozzi in Florenz) und zahlreiche weitere Bürgerhäuser. Viele von ihnen blieben hier und stiegen gar ins Patriziat auf: die Cysat, die Corraggioni, die Ronca, die von Balthasar (Baldassarri) in Luzern, die Tschudi (Giudici) und Russi (Rossi) in Uri, die Orelli, Pestalozzi, Jelmoli und Maggi in Zürich. Im 19. Jahrhundert war die Schweiz für viele Italiener das grosse Vorbild, ein «Hort der Freiheit». Rossini ver- ewigte seine Bewunderung für die Schweiz in seiner 1829 in Paris uraufgeführten Oper «Guglielmo Tell». Giuseppe Mazzini verbrachte über 10 Jahre in Lausanne und organi- sierte von hier aus sogar Freischarenzüge und Revolten ge- gen die Österreicher in Oberitalien. Aber Italiener und Schweizer begegneten sich nicht im- mer mit der heute selbstverständlichen gegenseitigenWert- schätzung: 1875 streikten italienische Mineure vor dem Gotthardtunnel. Sie verlangten einen Franken mehr Lohn pro Tag. Eine eilends zusammengestellte, freiwillige Bür- gerwehr von 21 Mann aus Altdorf schoss in die Menge, wo- bei vier italienische Arbeiter ums Leben kamen und meh- rere schwer verletzt wurden. 1893 verprügelten in Bern arbeitslose Schweizer Handlanger im sogenannten Käfig- turmkrawall italienische Bauarbeiter, die sie als Lohn- drücker wahrnahmen. 1896 kam es im Zürcher Arbeiter- quartier Aussersihl zummehrtägigen Italienerkrawall. Aus- löser war ein italienischer Maurer, welcher einen Elsässer niedergestochen hatte. Als 1898 auch noch die Kaiserin Sisi in Genf von einem italienischen Anarchisten niedergesto- chen wurde, galten die Italiener hierzulande gemeinhin als «aufrührerisches Gesindel und Messerstecher». In Luzern verbreitete wenig später der Quartierverein Bernstrasse eine Liste von 20 «gefährlichen Familien» zu- handen von Hausbesitzern. Diese Italiener sollten auf kei- nen Fall eine Wohnung mieten können. Gleichzeitig ver- ordnete derselbe Quartierverein die Nachtruhe ab 20 Uhr. Das «Tschinggen-Palaver» störte die Einheimischen. Die Bezeichnung «Tschingg» stammt von italienisch cinque «fünf» und geht auf den im Spiel «Morra» oft vorkommen- den Ausruf «cinque la morra» zurück. Aus Letzteremwurde im Dialekt «Tschinggelemoore», ein Ausdruck, der älteren Menschen noch bekannt ist. Verschmelzung von Nord und Süd Italienisches Essen? Um 1900 kein Thema: Ranziger Speck, verschimmeltes, ungesalzenesWeissbrot und Polenta waren hier verpönt. Ein Produkt der «ersten Italianisierung» durch den Bau der Gotthardbahn jedoch konnte sich durchsetzen: die heute als urschweizerisch geltenden Älpler- magronen, eine erste kulinarischeVerschmelzung von Nord und Süd. Die Italiener brachten Teigwaren, die Schweizer Kartoffeln, Zwiebeln, Käse und Rahm. Eines der ersten italienischen Restaurants war ab 1905 die «Cooperativa italiana» in Zürich, eine sozialdemokrati- sche Genossenschaft, die ein Restaurant betrieb und Räume für Anlässe bereitstellte. Dazu gehörte auch eine Bibliothek. Hier verkehrten Mussolini (damals noch Sozialist), Lenin und deren Freundin Angelica Balabanoff. Später trafen sich hier zahlreiche Gegner des Faschismus, darunter der Romancier Ignazio Silone. Die Schriftstellerin Franca Mag- nani (1925–1996), die an der «Freien Italienischen Schule Zürich » zur Schule ging, schreibt: «Die ‹Cooperativa› war während der ganzen Zeit unseres Exils das Zentrum der an- tifaschistischen Emigration in Zürich. Sie war zugleich An- Noch nie lebten so viele Italienisch sprechende Menschen in der Schweiz, nämlich über eine Million. Noch nie reisten so viele Schweizerinnen und Schweizer nach Italien, und noch nie gab es so viele italienische Restaurants hier: Nur Italien ist italienischer als die Schweiz. * Dr. phil. Walter Steffen ist Historiker. Geboren 1945 in Luzern, Städtisches Lehrerseminar und Studien in Zürich und Bologna. 30 Jahre Lehrer für Geschichte, Italienisch und Englisch an den Lehrerseminarien Luzern und Hitzkirch. Seit der Pensionierung ist er Reiseleiter für Italien. Italiener in der Schweiz

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