Zenit Nr. 4, Dezember 2019

Pro Senectute Kanton Luzern 4 | 19 23 Blick in die Geschichte Foto: Historisches Museum Luzern laufstelle für alle, die eine warme Mahlzeit brauchten oder ein Nachtlager suchten.» Die Schwarzenbach-Initiative von 1970 verlangte eine Beschränkung der Ausländer auf 10% der Bevölkerung. 583 000 (54% der damaligen Ausländer) waren Italiener. 300 000 Italiener bangten um ihre Ausschaffung. Sie wur- den oft «fichiert» und als «rote Überfremdungsgefahr» wahrgenommen. Da jeder dritte Italiener kommunistisch wählte, vermutete man, dass sich auch hier «rote Zellen» bilden könnten. Alexander J. Seilers Film «Siamo Italiani» gilt als klassisches Dokument dieser «anni di piombo» (Jahre aus Blei). «Wir riefen Arbeitskräfte – und es kamen Menschen», sagte der Schriftsteller Max Frisch dazu. Für viele heute bestens integrierte Doppelbürger bleiben trau- matische Erinnerungen an diese Zeit: minutiöse, oft de- mütigende medizinische Musterungen an der Grenze.Wer nicht gesund war, wurde zurückgeschickt. So erinnert sich Francesco Nuzzo, dass ihm schon am ersten Tag seiner Anstellung in Zürich die Entlassung drohte. Er musste in der Fabrik einen schwerenWagen zie- hen und rief seinem Kollegen, der hinten stossen sollte, mehrmals laut «Spingi! Spingi!» zu (ausgesprochen: spinschi = stosse, stosse), worauf dieser zum Chef eilte und sagte: «Der neue Italiener ist saufrech und schreit dauernd, ich spinne!» Nur dank seines Bruders, der dem Chef den Irrtum erklären konnte, wurde Francesco nicht fristlos entlassen. 1938 gab es ein italienisches Restaurant in Luzern: das «Barbatti». Heute sind es hier über 15, und italienisches Es- sen ist sehr beliebt. Pizza, Pasta, Cappuccino, Espresso und Tiramisù sind aus demSchweizerWortschatz nicht mehr wegzudenken. Pizzerie n sind aber erst in den frühen 1970er-Jahren aufgetaucht. Sie waren anfangs eine Sensation und dauernd überfüllt. Genauso erging es dem italienischen Kaffee: In den 50er-Jahren schmuggelte man Schweizer Kaf- fee und Pulverkaffee nach Italien. Heute ist hier «caffè all’ ita- liana» Trumpf. Sehnsucht nach Wärme und Heiterkeit Während die italienische Esskultur und die Mode von der Globalisierung profitierten, verlor die italienische Sprache hier zunehmend an Bedeutung, und dies, obwohl die Italie- ner mit 14,9% immer noch das grösste Ausländerkontin- gent stellen – vor den Deutschen mit 14,3% (Zahlen von 2017). Als Schulfach fiel Italienisch hinter Englisch, Fran- zösisch und Spanisch auf den vierten Rang zurück. Kaum 5% der Luzerner Kantonsschüler lernen heute noch Ita- lienisch. Doch in der Werbesprache hält sich die «bella lingua» erstaunlich gut: Migrolino, Toblerone, Amaretto, Ragusa und Risoletto gelten nach wie vor als wohlklin- Gruppo «Italia» des Fritschi-Umzugs 1897 vor der Sentikirche. Möglicherweise verkleideten sich hier auch einige Luzerner als «fröhliche Italiener».

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