Zenit Nr. 2, Juni 2020

Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 20 15 HERAUSFORDERUNGEN ALS CHANCE forderungen und persönlichen Entwicklungsschritte an Problemen bereiteten. Eine wichtige Rolle spielten die Familie, gemeinsame Aktivitäten. Wir hatten drei Waisen- kinder adoptiert. Undenkbar, sie bei uns aufzunehmen und sich wegen persönlicher Differenzen wieder von ihnen zu trennen. Mehr noch: Die drei mit ihrer wachsenden Lebensfreude waren ein Quell gemeinsamer Lebensfreude. Was hat Ihnen in Ihrem Leben am meisten Kraft abgefordert? Die grösste Herausforderung war stets die jeweils aktuelle. Herausforderungen anzunehmen, hat sich immer gelohnt, auch wenn es Situationen gab, in denen ich überfordert war. So kam ich an meine Grenzen, als einer unserer Buben in der Pubertät eine schwer erträgliche Entwicklung nahm. Lange quälte mich der Gedanke, wie ich ihm besser hätte helfen können. Wie haben Sie in schweren Zeiten Kraft gefunden? Mein Leben war und ist nur möglich dank allem, was ich von anderen Menschen empfangen habe. Meine Eltern hatten mich trotz meinesWerdegangs mit Umwegen akzep- tiert in der Überzeugung, dass ich doch Erfolg haben werde. Als Werkstudent, dann als Arzt und angehender Psychiater und Psychotherapeut erfuhr ich ebenfalls Förderung, ins- besondere durch zwei Professoren. Als es darum ging, eine zeitgemässe psychiatrische Versorgung zu schaffen, erhielt ich nachhaltige politische Unterstützung. All dies gab mir Kraft, meinenWeg weiterzugehen. Heute sind Sie 92, stehen dennoch mitten im Leben. Sie mischen sich in politische Prozesse ein, malen, schrei- ben … Die Coronaepidemie hat auch Ihr Leben von einem Tag auf den anderen verändert. Fühlen Sie sich als «gefährdete Person» durch die Anweisungen des Bundesrats diskriminiert oder geschützt? Ich weiss um meine Gefährdung und lebe unter einem strengen Regime der Risikovermeidung, das ich mir auf- erlege. Die Anordnungen des Bundesrats gelten nicht nur dem Schutz der am meisten Gefährdeten, sondern ins- besondere dem Schutz der Bevölkerung. Das ist voll zu respektieren. Was macht die Coronakrise aus sozialpsychiatrischer Sicht mit den Menschen, insbesondere auch mit der älteren Generation? Wie Menschen auf eine Pandemie reagieren und ihr Leben anpassen, das ist individuell sehr unterschiedlich. Der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus hat in «La Peste» den Widerstand der Menschen gegen physische und moralische Zerstörung eindrücklich beschrieben. Das ist heute nicht anders. Aber es stehen uns mehr Möglichkeiten zur Verfügung, mit der Vereinsamung ein- facher umzugehen – ich denke insbesondere an moderne Kommunikationsmittel wie Mail, Skype oder Facetime. Leider sind wie immer jene von der Krise am stärksten betroffen, die schon vorher Probleme mit ihrer sozialen Integration hatten. Normalität kehrt so schnell nicht wieder ein. Wie wird das Coronavirus unsere Gesellschaft verändern? Es zwingt uns, Entscheidungen zu fällen.Wir müssen abwä- gen zwischen optimalem Selbstschutz und einem Leben ohne grosse Einschränkungen im Kontakt zu anderen. Es zwingt unsere Gesellschaft aber auch, zwischen egois- tischen Eigeninteressen und solidarischem Verhalten abzu- wägen – beispielsweise gegenüber Menschen, die durch die Krisenzeit wirtschaftlich ruiniert sind. Ich weiss nicht, ob wir das schaffen. Ich hoffe es. Denn es ist die Hoffnung, die «Berge versetzt», was auch immer diese Hoffnung weckt und am Leben hält. Ambros Uchtenhagen in seinem Atelier, wo er sich seit seiner Emeritierung der Kunst widmet.

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