Zenit Nr. 2, Juni 2020

14 Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 20 INTERVIEW ASTRID BOSSERT MEIER Der Glaube versetzt Berge, heisst es in der Bibel. Kann man wirklich alles erreichen, wenn man nur daran glaubt? Das wäre zu einfach. Doch die Überzeugung, dass man ein gesetztes Ziel erreichen kann, hilft, sich überhaupt daran zu wagen. In meinem Leben konnte ich dann «Berge ver- setzen», wenn ich mich der jeweiligen Herausforderung gewachsen glaubte und wenn andere ihre Unterstützung signalisierten. Wer Berge versetzen und etwas erreichen will, muss also andere mit ins Boot holen können? Ich war nicht der einsame Besserwisser. Ich liess mich auf Probleme ein, die auch andere erkannten. Ich verdichtete meine eigenen und fremde Erfahrungen zu einem zu- kunftsfähigen Konzept, mit dem ich andere überzeugen konnte – Fachleute, Behörden, Medien. Wichtig war aber auch, bei der Umsetzung fortlaufend positive wie negative Auswirkungen zu dokumentieren und auszuwerten. So er- gab sich ein Netzwerk aus Überzeugungsarbeit. Mit Ihrer Überzeugungskraft haben Sie viel erreicht. In den 1960er-Jahren bereiteten Sie die Sozialpsychiatrie vor mit dem Ziel, Kranke klinikextern in die Gesell- schaft zu integrieren. Zudem gelten Sie als ein Pionier der Schweizer Drogenpolitik, die auf Betreuung statt Strafe setzt. Damit konnten Sie zu Beginn keine Berge versetzen. Ihre Ideen stiessen auch auf Widerstand! Herausforderungen erlebe ich als Inspiration, als Chance, mich zu bewähren, und als Chance, Abhilfe für ein Problem zu schaffen. In der Drogenpolitik beispielsweise habe ich vielfach erfahren, dass man den Betroffenen mit einer repressiven, bestrafenden Politik vor allem schadet, dass sich ihre Situation verschlimmert und ihre Angehörigen und ihr Umfeld inMitleidenschaft gezogen werden. Das hat meine Überzeugung gestärkt, einen neuen Weg zu suchen. Wie dieser Weg aussehen könnte, habe ich in meiner Arbeit mit psychisch Kranken gelernt. Sucht ist eine Form von psychischer Krankheit. Warum waren Sie sicher, dass Repression in der Drogenpolitik nicht zum Ziel führt, sondern Ihr Weg der richtige ist? Ich war nicht sicher. Aber ich wusste, dass dieser Weg eine grosse Chance für viele Betroffene sein konnte. Wir bauten auf den positiven Erfahrungen mit therapeutischen Gemeinschaften für Drogenabhängige auf, aber auch auf den Vorteilen der methadongestützten Therapie, welche zu weniger Rückfällen führte als eine reine Abstinenz- behandlung. Das ermöglichte den Betroffenen eine Neu- orientierung der Lebensführung, vielfach die Überwindung der Sucht. Auch Ihr privates Leben als Ehemann von Lilian Uchtenhagen, die als erste Frau für den Bundesrat kandidiert hat und gescheitert ist, war geprägt von Herausforderungen, Druck und Belastung. Wie sind Sie damit umgegangen? Im privaten Bereich galt es, immer wieder die Basis für un- ser gemeinsames Leben zu finden. Voraussetzung dafür war ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das stärker blieb als das, was uns die unterschiedlichen beruflichen Heraus- In den 1960er-Jahren bereitete Ambros Uchtenhagen* die Sozialpsychiatrie vor, in den 1990er-Jahren half er mit, die pragmatische Schweizer Drogenpolitik zu entwickeln. Beruflich hat der Psychiater Berge versetzt. Doch er musste auch private Herausforde- rungen bestehen. * Ambros Uchtenhagen (92) ist emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie und gilt als ein Wegbereiter des Vier-Säulen-Drogenmodells des Bundes mit Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Er war verheiratet mit der 2016 verstorbenen Lilian Uchtenhagen, welche 1983 beinahe zur ersten Bundesrätin gewählt wurde. Das Paar hatte drei Adoptivkinder. «Ich war nicht der einsame Besserwisser» Foto: Astrid Bossert Meier

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