Zenit Nr. 1, März 2020

8 Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 20 Lebenskunst als Kunst, das Leben zu geniessen. Das klingt gut, nicht wahr? Da wäre nur noch zu klären, was das genau ist, «das Leben». Und was ist die Kunst im Umgang mit dem Leben? Und kann man das Leben immer geniessen? VON WILHELM SCHMID* Lebenskunst ist mein Leib- undMagen- thema in der Philosophie seit langer Zeit. Ich bezeichne sie gerne als be- wusste Lebensführung, als eine Orientierung im Leben mithilfe des Denkens. Dem steht allenfalls imWeg, nicht immer Zeit fürs Denken zu haben, weil das Leben eben auch stres- sig sein kann, auch beim Älterwerden. Was ist Leben? Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen glauben, das Leben solle nur positive Seiten ha- ben, die negativen sollten abgeschafft werden. Trotz aller Anstrengungen will das nicht gelingen. Warum? Stel- len wir uns vor, es gäbe nur noch Freude, wie erfreulich wäre die dann noch? Es gäbe keine Kontrasterfah- rung mehr, immer nur helle Freude, «Immer nur helle Freude wie langweilig! Gegensätze sind dazu da, dass das Leben nicht die Spannung verliert, die es erst zu einem spannen- den Leben macht. Daher gibt es auch keine ewige Jugend, sondern ebenso das Älterwerden. Nur zwischen gegen- sätzlichen Polen kann Spannung ent- stehen, daher gelingt es nicht, den je- weiligen Kontrapunkt auszuschalten. Das zu akzeptieren, macht es leich- ter, schwierige Zeiten durchzustehen und den Gegenpol, der ebenfalls zum Leben gehört, hinzunehmen. Das spart Kräfte, statt vergeblich dagegen anzukämpfen und dabei alle Kräfte zu vergeuden. Lebenskunst ist nicht nur die Kunst, das Leben zu geniessen, sondern auch, mit seinen weniger geniessbaren Seiten gut zurechtzu- kommen. Das Leben bewältigen Was ist Kunst? Jede Kunst ist angewie- sen auf ein Wissen. Das gilt beispiels- weise für die Kunst des Malens: Der Maler muss wissen, was Pinsel, Farben und Leinwände sind. Das Wissen re- sultiert aus der Aufnahme von Infor- mationen, etwa durch Schulbildung, Lektüre von Büchern, Austausch mit anderen, eigene Erfahrungen und die Bereitschaft zum immer neuen Nach- denken darüber, wie die Praxis zu ver- bessern und zu verfeinern ist. Wissen ist die Basis, aber der Maler, der alles über das Malen weiss, hat noch lange kein Bild gemalt. Der Mensch, der einiges vom Leben weiss, also etwa, dass das Leben aus Gegensätzen und auch Älterwerden besteht, muss sich erst noch im wirklichen Leben bewäh- ren. Das Leben muss tatsächlich be- wältigt werden, sonst ist es nichts mit der Kunst und dem Künstlersein. Kunst kommt bekanntlich vom Können, das mit Praxis und einem ewig geduldigen Sichüben zu erwer- ben ist. Jede und jeder kann auf diese Weise zur Künstlerin und zum Künst- ler werden, in der Malerei wie im Leben. Bei der Malerei ist klar, worin man sich üben sollte. Aber beimLeben? Beim Leben können das beispielsweise Berührungen sein, die auf viel Übung angewiesen sind. Die Basis dafür ist, erst einmal zu wissen, wie wichtig Berührungen sind. Gerade auch beim Älterwerden sind sie wichtig. Sie sind massgeblich am Aufbau und der Stärkung des Immun- systems beteiligt. Bei Kleinkindern ist das überlebensnotwendig. Aber auch bei Erwachsenen stärkt Berührung das Immunsystem, das ein Bollwerk gegen *Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin. Er lehrte bis zur Altersgrenze Philosophie als ausserplanmässiger Professor an der Universität Erfurt und war zeitweilig als philosophischer Seelsorger am Spital Affoltern am Albis tätig. 2019 erschien sein jüngstes Buch «Von der Kraft der Berührung», 2018 «Selbstfreundschaft – Wie das Leben leichter wird» und 2014 sein Bestseller «Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden», alle im Insel Verlag. www.lebenskunstphilosophie.de Foto: zVg Foto: Shutterstock

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx