Zenit Nr. 3, September 2017

32 Pro Senectute Kanton Luzern 3 | 17 SCHWEIZER GESCHICHTE, TEIL 19 In der Nacht auf den 10. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Diese «weltgeschichtliche Flutwelle» ergreift zwei Wochen später auch die Schweiz. Die «Russenangst» ist ver- pufft. Bei der für Schweizer Verhältnisse aussergewöhnlich hohen Stimmbeteiligung von 69 Prozent stimmen 1 052 442 Schweizerinnen und Schweizer (35,6Prozent) für die Ab- schaffung der Armee. In den Kantonen Jura und Genf wird die Initiative sogar angenommen. Die Bevölkerung hat keine Angst mehr. Wie viel Furcht vor dem «äusseren und inneren Feind» aber bei den Behörden noch vorhanden ist, offenbart der kurz zuvor ausgelöste Fichenskandal. Am Anfang dieses grössten politischen Skandals der Nachkriegsschweiz steht ein kurzes Telefonat der Justiz- ministerin Elisabeth Kopp. Sie ruft ihren Gatten an, um ihn zum Rücktritt aus dem Verwaltungsrat eines Unterneh- mens zu bewegen, gegen das die Bundesanwaltschaft er- mitteln will. Als die Geschichte ruchbar wird, sie aber das Telefonat leugnet, muss die erste Bundesrätin des Landes im Januar 1989 demissionieren. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) wird beauftragt, den Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung zu prüfen. Linke Politiker wittern dabei die Chance, den obskuren Schweizer Staatsschutz zu durchleuchten. Was zumVorschein kommt, hat niemand erwartet. Statt der «Affäre Kopp» machen nun plötzlich die «Fichen» (Registerkarten) Schlagzeilen. Am 24. November 1989 lässt PUK-Präsident und SP-Nationalrat Moritz Leuenberger eine Bombe platzen: Während des Kalten Krieges wurden über 900 000 Personen und Organisationen bespitzelt. Übereifrige Beamte hatten nicht nur höchst relevante Informationen zu Terrorismus und Spionage aufgezeich- net, sondern alles, was ihnen nicht konform, unbequem, unkonventionell und «unschweizerisch» erschien – die Teil- nahme an Anti-AKW-Demonstrationen und Reisen in den Osten zum Beispiel. Noch brisanter ist die Tatsache, dass die Schweiz eine Geheimarmee (P26) unterhielt, eine Widerstandsorganisation im Falle einer sowjetischen Beset- zung der Schweiz. Und dies alles kurz bevor «700 Jahre Eid- genossenschaft» gefeiert werden soll. Die Lust zum Feiern ist vielen vergangen, auch den «Vorzeige-Schweizern» Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Dürrenmatt nennt in seiner Festrede die Schweiz ein Gefängnis. Das Schweizer Nationalgefühl erreicht einen Tiefpunkt. Druck von aussen Seit 1989 muss sich die Schweizer Regierung zahlreichen Forderungen der USA, der EU und der OECD beugen: Das Bankgeheimnis (2008 von Bundesrat Merz als «unverhan- delbar» bezeichnet) wird im März 2009 gegenüber den ausländischen Steuerbehörden fallen gelassen. Der Bundes- rat dehnt die Amtshilfe auf sämtliche Steuerdelikte aus. Bisher war sie auf Steuerbetrug (etwa durch Urkunden- fälschung) beschränkt gewesen. Auf das «Kavaliersdelikt» Steuerhinterziehung (ein rein helvetischer Begriff) muss nun auf internationalen Druck hin gegenüber demAusland verzichtet werden. Viele Schweizer hatte es nicht gestört, dass zahlreiche betuchte Ausländer als «Steuerflüchtlinge» ihr Guthaben in der Schweiz deponierten. «Der Schaden fremder Menschen geht uns nichts an», dachte man. Wenn es aber darum ging, am Schaden, den man im Ausland anrichtete, mitzutragen, war man nicht bereit dazu. Die jahrelangen Streitigkeiten mit Deutschland über die Anflugwege des Zürcher Flughafens zeugen von dieser «Sankt-Florian-Haltung». Aus Angst vor der wirtschaftlichen Überfremdung war bereits im Krisenjahr 1936 die Aktienvinkulierung (das Er- stellen von Namensaktien) eingeführt worden. Man wollte damit unerwünschte Investoren fernhalten. Auch das wirtschaftliche Kader sollte schweizerisch bleiben: Um in Industrie und Wirtschaft eine Führungsfunktion zu er- halten, war eine Offiziers- und Parlamentskarriere uner- lässlich. Bewahren und Verändern – die Schweiz seit 1989 1989: Der Mauerfall in Berlin beendet den 44 Jahre langen Kalten Krieg – und plötzlich wankt auch die stabile Schweiz. Fichenskandal, Armee-Abschaffungsinitiative, das Nein zu Europa, der Druck der USA auf die Banken – all dies schafft Unsicherheit. «Bewahrer» und «Veränderer» liegen sich in den Haaren.

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