Zenit Nr. 2, Juni 2021

Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 21 23 SICH SELBER SEIN Es ist ein frühlingshafter Tag. Doch Ruth Bieri beschäftigt sich bereits mit Weihnachten. Auf ihrem Arbeitstisch im Brändi-Shop im Städtchen Willisau faltet sie Karten mit Tannensujets. Seit 45 Jahren arbeitet Ruth Bieri in der Stif- tung Brändi, seit 2001 im Shop in Willisau. Die 63-Jährige arbeitet gerne genau, «dann sind die Chefs zufrieden». Sie sei zudem sehr zuverlässig und habe einen guten Humor, er- gänzt Markus Vogel, Unternehmensleiter des AWBWillisau. Ist Ruth Bieri zufrieden mit ihrem Berufsleben? Oder hatte sie vielleicht andere Träume? «Ich habe nie überlegt, ob ich einen Traumberuf hatte. Ich war einfach froh, dass ich ins Brändi gehen konnte.» Sie steht voll und ganz hinter ihrem Arbeitgeber und ärgert sich über jene Kanti-Schüle- rinnen und -Schüler, die mit abschätzigem Blick am Brändi-Shop vorbeigehen. «Die sollten unsere Arbeit ein- mal selber machen. Das wäre vielleicht gar nicht so einfach, weil alles sehr genau sein muss.» Bald muss sich Ruth Bieri nicht mehr ärgern. ImAugust geht sie in Rente. Sie will ihren beiden pensionierten Seit 20 Jahren ist die Stiftung Brändi der Arbeitsort von Marlis Meier. Ihre Beschwerden wurden zu gross, um in der Privatwirtschaft weiterzuarbeiten. Im Brändi begann sie bei den elektronischen Montagen und übernahm an- fänglich einfache Schraubarbeiten in der Kabelkonfektio- nierung. Inzwischen hat sich ihr Berufsalltag verändert: Heute arbeitet sie selbstständig mit dem Computer. Sie erfasst Bestellungen und ist verantwortlich für den Druck verschiedenster Kunden-Etiketten. «Das hätte ich mir früher nie zugetraut, denn ich war keine gute Schülerin», MARLIS MEIER (60), KRIENS «Ich möchte respektiert werden, wie ich bin» RUTH BIERI (64), BRÄNDI-SHOP WILLISAU «Traumberuf? Das habe ich nie überlegt» Schwestern, mit denen sie eine Wohnung teilt, zur Hand gehen, öfters Schlager- oder Ländler-CDs aus ihrer riesi- gen Sammlung hören und hoffentlich bald wieder einen FCL-Match besuchen. Angst vor Langeweile hat sie nicht. «Die Chefs haben gefragt, ob ich nicht noch etwas weiter- arbeiten möchte. Aber ich habe genug.» erzählt sie. Doch im Brändi habe sie die Chance erhalten, sich weiterzuentwickeln. «Es war nicht einfach. Aber wenn man den Willen hat, ist vieles möglich.» Marlis Meier hat tatsächlich einen starkenWillen.An un- beschwerte Zeiten kann sich die 60-Jährige kaum erinnern. Als Kind wurde sie oft gehänselt. Später kamen gesund- heitliche Probleme dazu, unter anderem schwere Diabetes, Rücken- oder Hüftprobleme. Unzählige Operationen musste sie sich in den letzten Jahren unterziehen. Diverse Krankhei- ten schränken ihr Leben ein. Körperlich wie auch finanziell. «Wenn man mal eine IV-Rente hat, kann man nicht mehr so leben wie die anderen und auch nicht mehr so verdienen wie die anderen. Es ist immer knapp.» Umso wichtiger ist für sie der Arbeitsalltag. «Ich mache etwas Sinnvolles, bekomme Bestätigung und studiere nicht den Schmerzen nach.» Allerdings kämpft die 60-Jährige nicht nur mit der Gesundheit, sondern auch mit gesell- schaftlichen Vorurteilen: «Wer im Brändi arbeitet, ist nichts und kann nichts, so denken manche Leute. Das tut schon weh.» Doch das sei schlicht falsch: «Wir leisten etwas!» Weniger vorschnelle Urteile ihrer Mitmenschen, das wünscht sich Marlis Meier. «Ich bin behindert, das kann ich nicht abstreiten. Aber ich möchte einfach respektiert werden, wie ich bin.»

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