Zenit Nr. 2, Juni 2021

LEBEN IM HEIM Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 21 21 sich. «Es ist verrückt, in meinemAlter noch Schmetterlinge im Bauch zu spüren», sagt der dreifache Vater, Grossvater und Urgrossvater Robert Eberhard. «Mir ging es noch nie so gut wie jetzt», fügt die vierfache Mutter und vierfache Grossmutter Margrith Bruhin bei. Unabhängig und doch sicher Robert Eberhard und Margrith Bru- hin führen ein komplett unabhängi- ges Leben und beziehen bis heute praktisch keine Dienstleistungen – abgesehen von gewissen Reinigungs- arbeiten wie Fensterputzen. «Wir ge- niessen das Hier und Jetzt. Aber ich weiss auch, dass irgendwann Ein- schränkungen kommen» sagt der ehemalige Fahrlehrer und Fahrleh- rer-Ausbildner Robert Eberhard. «Lage und Struktur meiner Wohnung geben mir diesbezüglich eine gewisse Sicherheit.» Margrith Bruhin, die un- ter anderem selbst im Alters- und Behindertenbereich gearbeitet hat, erlebte viele schwierige Situationen: «Ich will meinen Kindern ersparen, über mich entscheiden zu müssen, wenn ich es selber nicht mehr kann.» Die Kinder unterstützten ihre Eltern im Entscheid, eine Wohnung mit Dienstleistungen zu mieten. Als Robert Eberhard oder Margrith Bru- hin jedoch ihren Bekannten vom Umzug erzählten, waren die Reaktio- nen unterschiedlich. Robert Eber- hard bekam zu hören, er sei doch viel zu fit fürs Altersheim – obwohl er von Alterswohnung gesprochen hatte. «Du spinnst, in ein Altersheim zu ziehen», bekam Margrith Bruhin so- gar von einer Bekannten zu hören. Die Vehemenz dieser Aussage traf sie tief. Doch sie liess sich nicht beirren. Sich selber bleiben heisst eben manch- mal auch, nicht auf andere, sondern auf das eigene Herz zu hören. Dieser Mut wird belohnt. Mit Zufriedenheit, Lebensfreude und manchmal sogar mit einer neuen Liebe. Im Heim kann man sich selber sein. Davon ist Viva-Luzern-Geschäfts- führerin Andrea Wanner* überzeugt. Manch- mal sind dennoch Kompromisse nötig. INTERVIEW ASTRID BOSSERT MEIER «Sich selber sein» im Heim: Ist dies keinWiderspruch? Andrea Wanner: Für mich nicht. Das durchschnittliche Eintrittsalter in unseren Betagtenzentren liegt bei 84 Jahren, da will und darf man sich selber bleiben. Wir verstehen uns als Profis, die mit der Unterschiedlich- keit der Menschen umgehen kön- nen. Dabei hilft uns das Werkzeug «Advance Care Planning», die vor- ausschauende Pflegeplanung. Es geht darum, Wünsche bezüglich Tagesablauf, Vorlieben oder Essen im Detail zu erfragen und den Willen der Bewohnerin oder des Bewohners ins Zentrum unserer Arbeit zu stellen. Wo müssen Sie von den Bewoh- nenden Kompromisse einfordern? Letztes Jahr hat vor allem die Co- rona-Pandemie eine enorme Kom- promissbereitschaft verlangt. Es ging um die Frage: Schutz versus Freiheit und Lebensqualität. Mit so vielen Einschränkungen zu leben, war schwierig. Eine gewisse Kom- promissbereitschaft ist beim Leben in einer Gemeinschaft gefordert, ich denke an Themen wie Rauchen oder Hygiene. Individualität ist jedoch bei vielem möglich, und Studien zeigen, dass sie für unsere künftigen Bewohnenden noch wichtiger wird. «Corona verlangte enorme Kompromissbereitschaft» Bereits heute richten wir uns auf die neuen Generationen von Seniorin- nen und Senioren aus. Wir planen beispielsweise noch flexiblere Es- senszeiten oder sorgen für gutes WLAN in allen Häusern. Falls Sie irgendwann selbst in einem Alterszentrum leben: Wo wäre Ihnen Individualität beson- ders wichtig? Besonders wichtig ist mir persönlich die Privatsphäre in meinem Zim- mer. Und ich möchte meinen Le- bensrhythmus beibehalten – spät zu Bett gehen, morgens nicht vor neun Uhr geweckt werden und Besuche empfangen, wann ich möchte. Mir ist bewusst: Die Pflege meint es gut mit meiner Gesundheit. Doch meine Chips soll mir niemand aus- reden, die werde ich mir auch im Betagtenzentrum schmecken lassen. * Andrea Wanner (47) ist seit 1. Mai 2020 Geschäftsführerin von Viva Luzern. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in Führungsfunktionen von Alters- und Pflegeheimen, zuletzt als Leiterin der Betriebe Ost der Senevita-Gruppe. Andrea Wanner lebt in Hagendorn ZG.