Zenit Nr. 2, Juni 2021

METAMORPHOSE von Jörg zu Jil Foto: zVg Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 21 17 misierte Freiräume schaffen. Das ging oft auf emotionale und zeitliche Kosten der Beziehungen, in denen ich lebte. Mit 56 Jahren wollte, nein, konnte ich mir und meinen Liebsten diese Demütigung nicht länger antun. Die Weg- gabelung wies mir zwei Richtungen: Selbstaufgabe oder Jil. Ich wählte Jil – und damit denWeg, endlich mich selber sein zu dürfen, authentisch, echt. Ein Dasein, das ich so nicht kannte, kein Versteckis mehr, keine zitternden Hände beim Schminken, vorbei mit dem Vor- gaukeln falscher Tatsachen. Ja, ich habe die Welt, in der ich lebe, mit allen dazugehörenden Menschen im buchstäblichen Sinn enttäuscht – rigoros und kompromisslos. Es war ein Befreiungsschlag von ei- ner Wucht, die mich erschütterte. Euphorie, Freude, Hoffnung, aber auch Wut, Trauer und Frust – es gärte bittersüss in mir. Meine Gefühlswelt war eine Legierung aus Schmerz und Glückseligkeit. In den ersten Monaten nach dem Be- ginn des medizinisch begleiteten Veränderungsprozesses durchlebte ich eine emotionale Brandschatzung an Leib und Seele. Verursacht einerseits durch die Hormonbehand- lung, andererseits aber auch gespeist von einer quälenden Ungewissheit: Werde ich für meine Entscheidung, die Rolle als Mann für immer abzulegen und fortan als die Frau durchs Leben zu gehen, die ich in meinem Selbstverständ- nis immer war, einen zu hohen Preis bezahlen müssen? Werde ich dadurch geliebte Menschen verlieren, meine Tochter, meine Lebenspartnerin? Endlich Jil, aber alleine? Mehr als einmal tränkte ich während der Meta- morphose mein Kissen mit Tränen der Verzweiflung. Aber auch mit Tränen des Glücks – Panta rhei! – alles verändert sich – in meinem Fall rundum zum Guten. Ich habe mich liebgewon- nen und damit auch einen herzli- chen Zugang zu meinen Mitmen- schen gefunden. Einen Zugang, den ich mir in meiner männlichen Rolle nie erschliessen konnte. Das Beste: Niemand von Bedeutung hat sich von mir abgewendet. Auch nicht meine Lebenspartnerin. Sie sagt, sie liebe mich als Menschen, als die Person, die ja dieselbe geblieben sei, Geschlecht hin oder her. Selbst zu meiner Tochter habe ich als Vater in meiner gelebten weiblichen Identität einen herzlicheren Zugang gefunden. Ich geniesse dieses pure Glück in Demut und grosser Dankbarkeit. «Bei der Geburt entscheidet der Blick zwischen die Beine, was du sein sollst und welche Rolle dir in der Gesellschaft zugeteilt wird. Das ist absurd, bedeutete für mich aber nicht ‹ lebenslänglich. › »

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