Zenit Nr. 2, Juni 2021

* Marlies Michel (1956) verfügt über eine 12-jährige Beratungser- fahrung mit Menschen in Krisen- und Veränderungssituationen und ist Dozentin an der Hochschule Soziale Arbeit Luzern im Master- kurs Beratung und Prävention. Sie ist zudem Geschäftsleiterin Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz der Kantone LU/ OW/NW/UR und ZG. Die Mutter einer erwachsenen Tochter besitzt u.a. einen Fachhochschulabschluss in Sozialer Arbeit und den Master of Advanced Studies ZFH in Leadership und Management. Mehr Infos unter www.mm-coaching.ch IDENTITÄTSFINDUNG Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 21 11 vielschichtiges Unterfangen; es bedingt, dass wir eigene und fremde Widersprüche und Ambivalenzen akzeptieren und aushalten lernen. Eine grosse Hilfe, immer mehr sich selber zu werden, ist der Zugang zu den eigenen Emo- tionen. Diese zeigen uns meist sehr schnell und klar, was stimmig ist und was sich nicht passend anfühlt. Der Lern- prozess besteht darin, diesen Emotionen zu vertrauen, sie wahrzunehmen imWortsinn. Sich selber zu sein ist verbun- den mit Authentizität, Reflek- tion, Ehrlichkeit, Respekt. Viele Menschen haben das Gefühl, sich als jemand anderen aus- geben zu müssen, als sie sind, oder verstellen sich, um gewisse Erwartungen zu erfüllen. Das ist ein grosses Problem für viele Menschen in unterschiedli- chenKulturen. Gerade ältere Perso- nen haben gelernt, sich anzupas- sen und Erwartungen zu erfüllen. Wobei in der heutigen Zeit viel- leicht weniger den Eltern oder Vorgesetzten entsprochen wird, sondern den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und den sozialen Medien. Der Druck, einem bestimmten Bild genügen zu müssen, ist nicht weniger geworden, und die Vorgaben, wie Menschen «zu sein haben», sind oft sehr subtil und durchdringen die gesamte Persönlichkeit. Dies kann vor allem für Jugendliche eine grosse Herausforde- rung sein in ihrer Identitätsfindung. Ist «sich selber zu sein» lernbar? Auch im Alter? Auf jeden Fall! Wenn wir unsere Gefühle achten und ihnen Aufmerksamkeit schenken, können wir lernen, wer wir im Grunde unseres Herzens sind, was uns entspricht, wo un- sere Interessen und Leidenschaften liegen, was wir mögen und was uns zuwider ist. Gerade das Alter birgt diesbezüg- lich eine grosse Chance. Ältere Menschen haben viele Rollen abgelegt – ich denke hier an berufliche oder erzie- herische Funktionen. Dies bringt die Freiheit der Wahl: Welchen Konventionen will man sich weiterhin beugen, welchen nicht mehr? Das zeigt sich oft eindrücklich in all- täglichen Situationen – wenn beispielsweise langjährig be- freundete Menschen gemeinsam neue Rituale aushandeln oder plötzlich sehr persönliche Gespräche führen, die frü- her undenkbar waren. Welche Faktoren braucht es, um die eigenen Stärken, die eigene Persönlichkeit zu erkennen, daran zu wachsen und diese dann auch auszustrahlen? Es braucht, denke ich, ein Interesse an sich selber, eine Lust und Freude, sich zu erforschen, Zusammenhänge zu entde- cken in der Biografie und ein Verständnis für eigene Emp- findungen und Reaktionen zu entwickeln – auch für jene, die wir an uns selber weniger mögen. Wichtig scheint mir auch ein freundlicher, wertschätzender Blick auf die eigene Person; immerhin begleiten wir uns selber am nächsten durchs Leben. Gibt es einfache (Alltags-)Tipps, wie es leichter fällt, «sich selbst zu sein»? Die Selbstwahrnehmung ist ein erster wichtiger Schritt: Wie fühlt sich etwas an? Dies beginnt oft schon vor einer Handlung; Situati- onen lassen sich häufig aufgrund unserer Erfahrung antizipieren – wir können uns vorstellen, wie et- was ungefähr ablaufen könnte, und haben die Wahl, ob wir das in die Tat umsetzen möchten oder nicht. Es kann auch sehr schön sein, einer eigenen, spontanen Idee zu folgen und einfach mal zu schauen, wohin sie uns führt, und uns überraschen zu las- sen – auch von uns selbst. Die Frage: «Was könnte im schlimmsten Fall geschehen?» kann hilfreich sein, wenn wir uns nicht getrauen, zu etwas Nein zu sagen, das uns widerstrebt, wozu wir keine Lust haben. Meistens passiert gar nicht so viel, und nicht selten reagiert das Umfeld mit Akzeptanz. Sich selber zu öffnen und sich als Person zu zei- gen – also das Wagnis einzugehen, über sich etwas preiszu- geben, kann dazu führen, dass wir anderenMenschen näher- kommen und auch sie es wagen, sich zu zeigen in ihrer Ver- letzlichkeit. Denn sich selbst zu sein heisst auch, angreifbar zu werden. Und dies braucht Mut – und Vertrauen. « Wir müssen lernen, eigene Ambivalenzen auszuhalten und sie zu akzeptieren.»

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx