Zenit Nr. 2, Juni 2019

Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 19 7 Im Zenit Arbeit. Sie fühlten sich einsam und überflüssig und hatten keine Kraft mehr, um für bessere Verhältnisse zu kämpfen. Nach einigen Jahren organisierte die Gruppe Ende der Neunzigerjahre die erste Frauenkonferenz. Die über 90 anwesenden Frauen mit einer Behinderung wünschten am Schluss der Tagung eine Anlaufstelle speziell für behinderte Frauen. 2002 gründete die Frauengruppe den gemeinnützigen Verein «avanti donne», ein von Eigeninitiative, Selbstver- antwortung und Kreativität geprägtes Netzwerk von und für Frauen mit einer Behinderung. Am 8. März, dem Tag der Frau, eröffnete Hanne Müller zusammen mit zwei wei- teren Initiantinnen die Kontaktstelle von «avanti donne». Fünf Jahre arbeitete sie als Co-Leiterin der Geschäftsstelle zuerst freiwillig, dann in einem 20%-Pensum. Alles via Mail und Telefon mit einzelnen Tagungsangeboten. «Wir wurden mit einer unglaublichen Fülle von Fragen konfrontiert. Die Frauen hatten Mühe mit Versicherun- gen, Behörden, Institutionen, oder sie hatten Wohnprob- leme.» Viele hätten auch darunter gelitten, trotz IV-Rente unter dem Existenzminimum leben zu müssen, und seien von Altersarmut bedroht gewesen. «Erschreckend viele kannten weder ihre Rechte, noch waren sie über das grosse Netz von Beratungs- und Dienstleistungsangeboten informiert. Es ging in erster Linie darum, zuzuhören und eine Triage zu machen. Es erfüllt mich mit Freude, dass nach meinem fünfjährigen intensiven Einsatz der Verein seit 17 Jahren weiterbesteht und heute eine wichtige Rolle in der Schweizerischen Selbsthilfe spielt.» Selbstbestimmung bis ans Lebensende Seit 45 Jahren wohnt Hanne Müller selbstständig in einer baulich angepassten Wohnung. Während sie die Körper- pflege dank Hilfsmitteln weitgehend selber besorgt, ist sie bei der Wohnungspflege, Wäsche und Entsorgung auf Hilfe durch die Spitex und durch Nachbarn angewiesen. Sie erstellt jeweils einen Plan über die nötigen Arbeiten. Dabei kann sie auf den Einsatz einer Person zählen, die den Überblick auf den etwas speziellen Haushalt gewinnt. Es ist für sie wichtig, selber zu bestimmen, wie sie diesen führen möchte. Sie hat keine Mühe, Hilfe anzunehmen, ist sie doch seit Geburt daran gewöhnt. Jedoch kämpft sie mit anderen Betroffenen gegen eine weit verbreitete Hal- tung von Nichtbetroffenen, die oft meinen, besser zu wis- sen, was für sie gut ist. Hilfe heisst für sie Assistenz bei Tä- tigkeiten, die sie selbst nicht ausführen kann. Wichtig sind ihr auch vielseitige Kontakte. Der Lift führt sie in die Garage zu ihrem Auto oder Elektro-Rollstuhl. Dieser er- möglicht ihr bei trockenemWetter Mobilität. Sie nimmt gerne an Anlässen der Pfarrei und der Gemeinde teil, was Begegnungen ermöglicht. Ihre verhält- nismässig gute Gesundheit führt Hanne Müller auf die Einnahme von Bisphosphonaten, Medikamenten zur Reduzierung des Knochenabbaus, seit rund 25 Jahren zurück. Trotz Beschwerden wie Atmungsproblemen sorgt sie sich nicht um sich, sondern um die Zukunft der nächsten Generationen. Sie ärgert sich über kurzsichtige politische Entscheide, das Sparen auf dem Buckel der Schwächsten, das Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich und meint: «Es müsste doch das Ziel von Gesellschaft und Politik sein, allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen.» Ein ermutigendes Zeichen ist für sie das Einstehen der Klimajugend für einen verantwor- tungsbewussten Umgang mit Natur und Umwelt. Obwohl ihr Alltag mühsamer geworden ist und ihr viel Disziplin abverlangt, fürchtet sie das Älterwerden nicht. «Ich kann auf so viel Gutes zurückschauen und zehre von dem, was ich gemacht und geleistet habe, zum Beispiel von meinen Reisen.» Sie hofft, bis ans Lebensende in der Wohnung bleiben zu können, und würde notfalls jemanden anstellen, wäre doch die Pflege in einem Heim wegen ihrer Behinderung ein Risiko. Zuversichtlich schaut sie vorwärts und meint zufrieden: «Ich geniesse jeden Tag, einfach zu sein.»

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