KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

LESERBRIEF 01 / 2024 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 44 Offener Brief an das Kantonale Sozialamt, Kanton Zürich Sehr geehrte Damen und Herren In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass ich – im Gegensatz zu den letzten Jahren – nicht mehr eingeladen werde zu den Standort- oder Elterngesprächen in der Schule, obwohl die Eltern dieses wünschen. So erhielt ich gestern wieder eine Kopie eines E-Mails vom Schulleiter, welches an die Eltern einer meiner ADHS-Patienten ging, mit folgendem Inhalt: «Ich denke nicht, dass es nötig ist, Herrn Dr. Geiges zu einem Gespräch zu bemühen. Es geht im Gespräch darum, wie wir als Schule am besten auf Davis’ schulische Bedürfnisse und Leistungen eingehen können und in welcher Klasse und in welcher Situation wir ihn am besten fördern können. Die ‹medizinische› Seite haben wir ja bereits in unserem Gespräch mit dem Schulpsychologischen Dienst berücksichtigt.» Seit über 30 Jahren habe ich mich auf dem Gebiet des ADHS/ADS-Spektrum spezialisiert und zu diesem Thema weit über 100 Vorträge in Schulen und Gemeinden inner- und ausserkantonal gehalten. Dabei habe ich immer betont, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten, die mit dem Kind mit einem ADHS-Spektrum zu tun haben, absolut notwendig ist. Bevor mit Medikamenten behandelt wird, sollten allfällige Probleme bei folgenden 4 Standbeinen behoben werden: 1. Schlaf: genügend Schlaf ohne vorgängigen Bildschirmkontakt. 2. Gesundes, genügendes, regelmässiges Essen, nach Möglichkeit nicht alleine. 3. Bewegung: Unser Körper mit seiner im Kindes- und Jugendalter zunehmenden Muskulatur will und muss bewegt und gebraucht werden. 4. Soziales: Ein Kind, das kranke oder in Scheidung stehende Eltern hat, das Streit oder den Verlust eines Freundes hat, in der Schule von den Schulkameraden gemobbt wird oder von Lehrpersonen nicht adäquat behandelt wird, wird depressiv oder aggressiv und kann sich nicht konzentrieren. DR. MED. CYRIL LÜDIN MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, MUTTENZ Korrespondenzadresse: cyril@luedin.eu Kinderärztliche Zusammenarbeit mit der Schule In der Begleitung (Behandlung) meiner Kinder mit einem ADHS-Spektrum ist es unabdingbar, dass ich mich intensiv mit diesen 4 Standbeinen beschäftige und weiss, wie sich dieses Kind in seinen verschiedenen Lebenssituationen fühlt. Mit der Aussage «Ich denke nicht, dass es nötig ist, Herrn Dr. Geiges zu einem Gespräch zu bemühen» oder «Die ‹medizinische› Seite haben wir ja bereits in unserem Gespräch mit dem Schulpsychologischen Dienst berücksichtigt» merke ich, dass die Lehrpersonen trotz all meinen Vorträgen keine Ahnung haben, was die Aufgabe der heutigen Kinder- und Jugendärzte beinhaltet. Die Antwort einer anderen Lehrperson, die mich auch nicht bei den Gesprächen dabei haben wollte (glücklicherweise sind diese LP immer noch die grosse Ausnahme), antwortete mir auf meine Frage: «Was ist Ihrer Meinung nach die Aufgabe der Kinder- und Jugendärzte?» Antwort: «Medikamente zu verordnen und diese richtig zu dosieren.» Dass solche Antworten vor 50 Jahren vielleicht richtig waren, als es im Zürcher Oberland nur einen Kinderarzt in Wetzikon und Uster gab, kann ich nicht beantworten. Heute ist dies aber grundfalsch. Ich war mehrere Jahre Präsident der praktizierenden Kinderärzte Schweiz und weiss, dass ich mit dieser Aussage vollumfänglich im Einklang mit unserem Stand bin. Wie eingangs geschrieben, habe ich den Eindruck, dass solche Aussagen von Lehrpersonen wieder zunehmen. Meine Frage an Sie: «Wer ist zuständig für die Aus- und Weiterbildung der Lehrerschaft»? «Ist es auch im Sinne der Bildungsdirektion, wenn eine selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen Kinder- und JugendÄrzt:nnen stattfinden sollte, die niemals durch den Schulpsychologischen Dienst ersetzt werden kann?» Vielen Dank im Voraus für eine gute Zusammenarbeit mit der Bildungsdirektion. Freundliche Grüsse Dr. med. Hannes Geiges Als langjähriger Schularzt in Muttenz machte ich in den letzten Jahren ähnliche Erfahrungen. Die Zusammenarbeit mit dem Schularzt oder der Schulärztin existiert kaum mehr. Schulsozialarbeiter:innen und Heilpädagog:innen betreuen die Kindergartenkinder stundenweise. Was ihnen häufig fehlt, ist die Vorgeschichte. Wir Mediziner:innen werden nur spärlich eingebunden oder angefragt, auch bei Abschluss der Betreuung kommt kein Bericht – bei uns die Ausnahme sind die Logopäd:innen. Wir haben vor Jahren im Kanton Basel-Landschaft immerhin erreicht (KIS-Kolleg:innen waren daran aktiv beteiligt), dass praktisch alle Kinder von ihren Haus-/ Kinderärzt:innen untersucht werden, im Beisein eines Elternteils. Die Lehrer:innen aber schicken die Kinder ohne Rücksprache direkt zum Psychiatrischen Dienst. Zu guter Letzt antwortete mir eine engagierte Kindergärtnerin, mit der ich viele Jahre guten Kontakt pflegte, sie dürfe auf Weisung der Schulleitung den Kinderarzt bzw. die Kinderärztin für eine Entscheidung zum Schuleintritt nicht mehr einbeziehen. Daraufhin habe ich meinen Dienst quittiert. ■ DR. MED. HANNES GEIGES KINDER- UND JUGENDARZT FMH MIT SPEZIALGEBIET ADHS/ADS-SPEKTRUM, 8630 RÜTI Korrespondenzadresse: hannes.geiges@gmx.ch PS: Eine Kopie geht an: Vereinigung Kinder- und Jugendärzte Kt. Zürich und der Schweiz Volkschulamt ZH und Lehrerverbände

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