Zenit Nr. 4, Dezember 2018

Pro Senectute Kanton Luzern 4 | 18 15 Lebenssinn und 11 Prozent glauben an einen einzigen Gott. Personen, die angeben, keine Religion zu haben, können also dennoch gläubig oder spirituell sein. Ausdruck dieser Spiritualität finden viele in der Esoterik: Astrologie, kosmische Ernäh- rung, Schamanismus oder Zahlenmagie, um ein paar Beispiele zu nennen. Diese spirituellen Formen laufen leider Gefahr, eine Flucht aus der Welt des Realen zu sein und sich zum Narzissmus verführen zu lassen. Dass viele Leute dem Begriff «Spiritualität» gegenüber zwiespältige Gefühle hegen, hat wohl mit dem Esoterikboom zu tun. Die Frömmigkeit des letzten Jahrhunderts entspricht nicht mehr den Vorstellungen der Menschen im digitalen Zeitalter. Durch die gesellschaftliche Individualisierung geprägt, lassen wir uns nicht mehr von einer Institution empfehlen oder gar vorschreiben, wie wir unsere Spirituali- tät pflegen. Auch Menschen, die sich den christlichen Kirchen nach wie vor verbunden fühlen, haben sich von den alten Formen der Frömmigkeit verabschiedet und für sich persönlich andere Formen gefunden. Pilgern als konkrete Spiritualität Im Mittelalter gab es einen richtigen Pilgerboom, vor- zugsweise nach Santiago de Compostela, Jerusalem oder Rom. Waren es damals vor allem religiöse Motive, welche die Menschen aufbrechen liessen, nennen heute nur wenige einen explizit religiösen oder spirituellen Grund für ihre Pilgerschaft: Es tut einfach gut, hilft den Kopf zu lüften und aus demAlltag auszubrechen, es ist eine spe- zielle Erfahrung der Einfachheit und Genügsamkeit und vor allem auch ein Körper-Seele-Geist-Erlebnis. Ich bin überzeugt, dass es für viele auch spirituelle Er- fahrungen sind, die sie pilgernd machen – auch wenn sie es kaum so benannt haben möchten. So hat mir unlängst eine Freundin erzählt, dass ihr Bruder am 60. Geburtstag eine Multimediashow über seine Pilger-Wanderungen nach Santiago de Compostela präsentiert hat. Einerseits war sie erstaunt darüber, wie viel Raum dieses Pilger-Erleb- nis an seinem Fest eingenommen hat. Andererseits meinte sie doch: «Irgendwie muss das wirklich etwas Schönes sein. So tagelang zu Fuss unterwegs zu sein, scheint gut zu tun. Und interessante Leute hat mein Bruder auch immer wieder angetroffen, obwohl er alleine unterwegs war.» Spiritualität hat mit der Sinnfrage des Lebens zu tun, mit der Frage nach dem «inneren Kern», dem «Geist/Spirit», der uns belebt und in ein beglückendes Leben führt. Im christ- lichen Kontext versteht sich Spiritualität als Beziehungs- geschehen zwischen uns Menschen und der lebenspen- denden Kraft, der Lebensquelle, die wir Gott nennen. Es ist auch ein Beziehungsgeschehen zwischen uns Menschen und der Natur, in der wir Gott als Schöpfungskraft erken- nen. Und es ist nicht zuletzt Beziehungspflege mit uns selber, weil dadurch unsere Sensibilität steigt für das unsichtbar Vorhandene. Die Formen gelebter Spiritualität sind vielfältig, auch innerhalb des christlichen Glaubens. Der Besuch eines Got- tesdienstes kann genauso «spirituelle Beziehungspflege» sein wie das Pilgern auf dem Jakobsweg oder das Geniessen der ruhigen Minuten der Familienfrau, wenn die Kinder am Morgen das Haus verlassen haben. Oder das Engage- ment im Flüchtlingsbereich genauso wie das bewusste Ver- zichten auf klimaschädliche Güter. Denn immer geht es aus theologischer Sicht darum, sich mit der Lebensquelle zu verbinden, um der Verheissung des «Lebens in Fülle» näherzukommen. Nicht nur für sich, sondern für alle Men- schen, für die ganze Mitwelt. Spiritualität pflegen heisst also, sich immer wieder darauf zu besinnen oder sich zu vergegenwärtigen, was im Leben Sinn und Erfüllung schenkt. Das bedingt, zur Ruhe zu kom- men, sich Zeit zu gönnen und der Alltagshektik zu entfliehen. Deshalb sind die «alten» Formen der Frömmigkeit eigentlich ganz dienlich: ImWochenrhythmus sich für eine Stunde aus- klinken und nichts leisten müssen – welch eine Wohltat! Oder im Jahresrhythmus sich mit Fragen nach Endlichkeit und Hoffnung zu beschäftigen – welche Chance! In der auf- geklärten Zeit des 21. Jahrhunderts haben wir die Möglich- keit, jene spirituellen Formen zu pflegen, die uns entspre- chen. Wir haben viel Freiraum, sind aber auch entsprechend gefordert, den eigenenWeg zu suchen und zu gehen. Silvia Huber ist Theologin und Supervisorin und Coach mit langjähriger Berufserfahrung in der Pfarreiarbeit im Kanton Luzern. Sie ist selbstständig und begleitet Gesprächsgruppen zum Thema Spiritualität in der zweiten Lebenshälfte. Silvia Huber lebt in Malters und ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

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