Zenit Nr. 3, September 2020

Pro Senectute Kanton Luzern 3 | 20 31 * Dr. phil. Walter Steffen ist Historiker. Geboren 1945 in Luzern, Städtisches Lehrerseminar und Studien in Zürich und Bologna. 30 Jahre Lehrer für Geschichte, Italienisch und Englisch an den Lehrerseminarien Luzern und Hitzkirch. Seit der Pensionierung ist er Reiseleiter für Italien. BLICK IN DIE GESCHICHTE Migration Offiziere, Beamte, Wissenschaftler, Ärzte, Ar- chitekten, Theologen, Zuckerbäcker und Uhrmacher nach Russland. Auf der Krim entstand 1804 die Schwei- zerkolonie «Zürichthal». Die Hungersnot, welche das «Jahr ohne Sommer» (1816) gebracht hatte – und die so- zialen Missstände förderten die Migration. Auch in der Waadt fanden sich Auswanderungswillige. Louis Vincent Tardent (ein Botaniker und Weinbauer aus Vevey), Frédéric de la Harpe (der ehemalige Direktor der Helvetischen Republik) und Louis de Saloz, ein Schweizer Veterinär aus der Gegend vonOdessa, warenMitglieder der «Allgemeinen Schweizerischen Gesellschaft für die gesam- ten Naturwissenschaften». Laut der Volkskundlerin und Pfarrerin Heidi Gander-Wolf («Chabag, Schweizer Kolonie am Schwarzen Meer», Zürich 1974) hat De Saloz vermut- lich in dieser Gesellschaft von den «brachliegenden Wein- gärten am Schwarzen Meer» erzählt. Jedenfalls schrieb Tardent dem Zaren. La Harpe, der Lehrer und Freund Zar Alexanders I., unterstützte das Unternehmen. «Tout ce que je suis je dois à un Suisse » soll der Zar von ihmgesagt haben. Nach und nach blühte die Kolonie auf 1822 war es so weit. Nach einem harten, dreimonatigen Treck über 2137 km erreichte Tardent mit seinen Leuten Bessarabien. Ihnen wurden Privilegien vertraglich zuge- sprochen: 66 ha Land pro Familie und Befreiung von Steu- ern und Militärdienst für 10 Jahre. Der erste Winter war streng. Die Siedler überlebten dank der (durch den Zaren beauftragten) guten Betreuung durch General Insov. Nach und nach blühte die Kolonie auf. Neben Wein wurden auch Champagner, Liköre und Tabakwaren produziert. Eine Käserei, eine Mühle, eine Ölpresse und eine Seidenraupen- zucht entstanden sowie 1847 eine reformierte Kirche. Lehrer und Pastoren wurden aus der Schweiz «bezogen». Es kamen mit der Zeit auch Deutschschweizer Kolonis- ten dazu, sodass Chabag eine Art «Schweiz im Kleinen» war. Obwohl Russisch ab 1874 obligatorisch war, hielt die Gemeinde den Französischunterricht aufrecht. Wohlha- bende Siedler bauten sich ein Ferienhaus am 10 km entfern- ten Schwarzen Meer. An der Weltausstellung in Chicago 1893 wurdeWein aus Chabag präsentiert und prämiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Shabo rumänisch und in Saba-Târg umbenannt. Da die Grenze zum na- hen, nun sowjetischen Odessa geschlossen wurde, muss- ten sich die Siedler völlig auf den rumänischen Markt ausrichten. André Anselme beschreibt Chabag 1923 wie folgt: «Dort, wo man vor hundert Jahren nichts als elende, hie und da zwischen Dünen verstreute, verfallene Hütten fand, sieht man heute eine schöne Siedlung mit einer Bevölkerung von fast tausend Einwohnern, eine der schönsten und blühendsten des heutigen Bessarabien.» Gedeckt vom Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 wurde Bessarabien am 28. Juni 1940 von Stalins Truppen der Sowjetunion eingegliedert. 93 000 Bessarabien-Deut- sche folgten demAufruf zur Umsiedlung «Heim ins Reich». Auch die Chabag-Schweizer wollten zurück in ihre Heimat. Viele wurden aber vom Schweizer Konsulat in Bukarest ab- gewimmelt, Begründung: «Es fehlt an Arbeitsplätzen.» Für sie begann daher eine Odyssee durch Deutschland, bevor sie 1945 doch noch in die Schweiz kommen durften. Fast genau ein Jahr später begann am 22. Juni 1941 der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Die verbündeten Rumänen besetzten Bessarabien wieder. Beim Rückzug hin- terliessen die Sowjets «verbrannte Erde» und transportier- ten alle beweglichen Güter ab. Die Deutschen machten nun Jagd auf die ca. 200 000 Juden und Roma Bessarabiens. Sie kamen zuerst in Ghettos und später in Vernichtungslager. Am 20. August 1944 begann die Rote Armee mit etwa 900 000 Soldaten eine gross angelegte Sommeroffensive. Mit einer Zangenoperation gelang es ihr, das Gebiet des historischen Bessarabien in fünf Tagen einzunehmen. In Kesselschlachten bei Kischinew und Sarata wurde die nach der Schlacht von Stalingrad neu gebildete 6. deutsche Armee mit ca. 650 000 Soldaten aufgerieben. Shabo gehörte nun zur sowjetischen Teilrepublik Ukraine und blieb es bis 1991. Unter Stalins Kolchosen-Landwirtschaft wurden wie- derum Weine und Schaumweine produziert. Sie waren in der Sowjetunion beliebt – auch wenn sie demVergleich mit westlichen Produkten nicht standhielten. Die Renaissance des heute ukrainischen Weinbaus steht wiederum mit Schweizern in Verbindung: Das 2009 eröff- nete «Wine Culture Centre Shabo» geht auf die Initiative der georgischen Familie Iukuridse zurück. 2005 hatte sie den Luzerner Künstler Hugo Schaer und seine ukrainische Frau Iryna mit diesem Projekt beauftragt. Es ist heute ein beliebtes Ausflugsziel für Einheimische und Touristen aus dem nur 70 km entfernten Odessa. Auch in der Waadt ist die Erinnerung an die ferne Winzerkolonie noch wach. Ein Teil der Nachfahren der fünf Siedler-Generationen produ- ziert im Lavaux einen feinen Rosé de Pinot genannt «Le Chabag». Bis vor zwei Jahren haben sich Nachfahren («Chabiens» genannt) jedes Jahr in Lausanne getroffen und ein Schaschlik-Essen mit Balalaika-Klängen veranstaltet.

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