Zenit Nr. 1, März 2020

Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 20 29 BLICK IN DIE GESCHICHTE Gerbegass 4: Der mittelalterliche Ehgraben zum Nachbar- haus ist überdacht und auf geniale Weise zum «Entrée» des 7-Zimmer-Hauses umfunktioniert. Das Paradestück der Altstadt ist das um 1474 erbaute Rathaus, heute unter anderem Stadtmuseum. Es wurde seit je als Vielzweckgebäude benutzt: Hier waren früher der Polizeiposten und die Vogelwarte untergebracht. Im Erd- geschoss befanden sich eine Metzgerei und das Stadtarchiv. Ein enges Tor führt hier in ein Gewölbe, das überschrieben ist mit «Leben und Tod – damals und heute». Hier gibt es «Fresszettel» (Heiligenbildchen), die man als Medizin ver- schlang oder im Tee auflöste, und «Schabmadonnen», wel- che man zum selben Zweck ins Essen schabte. Im ersten Stock befindet sich die Markthalle (Tuchlaube) und im zweiten Stock der prunkvolle Bürgersaal mit den berühm- ten Glasfenstern. Der offene Dachstock beherbergt den von Kurt Messmer und Martin Steger konzipierten Museums- teil zu Schlacht undWinkelried. Architektonische Bijoux in der Gerbegass Etwa in der Mitte der Stadtstrasse zweigt die Gerbegass rechtwinklig zum See hinunter ab. Zwei renovierte Reihen- häuser fallen hier ganz besonders auf: Das Holzhaus Gerbegass 3 sieht heute wieder aus wie vor 500 Jahren. In solch zweigeschossigen Ständerbohlenbauten lebten die wenigen Hundert Sempacher im Mittelalter: gassenseitig eine Stube und hinten eine bis unter den Giebel reichende Rauchküche. Im Ständerbohlenbau werden senkrechte Ständer in weitem Abstand auf einer Schwelle eingezapft. Zwischen den Ständern sind senkrecht oder waagerecht übereinander geschichtete Bohlen eingefügt und durch Nuten oder Falze gesichert. In Sempach dominierte die hölzerne Ständerbohlenbauweise noch weit über das Mittelalter hinaus. Steinbauten wie die Alte Leutpriesterei oder der Hexenturm gab es nur wenige. Erst ab dem zwei- ten Drittel des 19. Jahrhunderts erfuhr das Städtchen eine eigentliche «Versteinerung». Zeitgemässe und sorgfältige Erhaltung Von einem holzbasierten Konzept gingen die Architektin Ursula Barmettler und der Bauingenieur Franz Willimann für ihr Wohnhaus an der Gerbegasse 4 aus: Sie liessen das 1548 gebaute Haus im Innern völlig intakt. Dabei reinigten sie jeden Balken eigenhändig. «Der Riesenaufwand hat sich gelohnt», sagt Ursula Barmettler, «wir fühlen uns wohl in unseren mittelalterlichen Räumen.» Dieser sorgfältigen, zeitgemässen Erhaltung und stilvol- len Weiterentwicklung des historischen Ortskerns verdankt Sempach den Wakkerpreis 2017. Alt und Neu ergänzen sich hier ideal für eine sehr hoheWohnkultur und Lebensqualität. Voraussetzung dazu ist eine breit verankerte Diskussionsfä- higkeit über das Planen undUmbauen in der historisch wert- vollen Gemeinde. Daher ist die kleine Stadt mit Kirchbühl und der Schlachtkapelle immer wieder einen Besuch wert. Architektur: Barmettler Architektur, Sempach; Fotos: Conrad von Schubert, Bern

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