Zenit Nr. 1, März 2020

PERSÖNLICHKEITEN Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 20 19 stark, wenn sie an die Hand genom- men, geliebt und begleitet werden», sagt die Psychotherapeutin. Das tat ihre Mutter. Sie gab den Kindern Halt, erklärte ihnen, dass der Vater wegen seiner Krankheit oft sonderbar sei, und hielt die Familie zusammen. Nach der Schule absolvierte Anne Marie Schärer eine kaufmännische Ausbildung, danach eine Zweitaus- bildung als Sozialarbeiterin und ein Studium zur Psychotherapeutin am damaligen Fritz Perls Institut in Deutschland. Sie heiratete, wurde Mutter zweier Kinder und arbeitete in unterschiedlichen Pensen weiter. Die Zeit für ihr schöpferisches Tun war knapp. Doch wenn die Kin- der im Bett waren, genoss sie die nächtliche Stille und liess ihrer Krea- tivität freien Lauf. Sie zeichnete, malte, arbeitete mit Stoff, Stein und weiteren Materialien bis hin zu Be- ton. Irgendwann begann Anne Marie Schärer, mit Tusche Charakterköpfe cartoonartig im Profil zu skizzieren, wobei sie die jeweilige Gefühlsregung als Schriftzug in die Zeichnung integ- rierte. So entstand etwa das Gesicht der «Lust» mit geschlossenen Augen und gerötetenWangen, in deren oran- gem Haar der Begriff «Lust» lustvoll aufflackert, oder der «Trotz» mit mausgrauer Pagenfrisur, unnachgie- bigem Blick und geschürzten Lippen. Mit ihren Cartoons will Anne Marie Schärer nicht Menschen in Gut oder Böse einteilen. Vielmehr zeigt sie damit die Vielzahl an Möglichkei- ten, «aus denen man seinen eigenen Platz finden und gestalten» kann. Und weil Lachen befreiend ist, würzt sie jede Zeichnung mit einem Sinn- spruch, der die Schwere des Lebens mit einer Prise Leichtigkeit aus- gleicht. Zum «Neid» fügte sie beispielsweise die Überlegung hinzu, dass es «ebenso schwierig ist, benei- det zu sein, wie zu beneiden.» Mehr und mehr Charakterköpfe entstanden im Lauf der Jahre. Zu den Sinnsprüchen kamen Begriffsklärun- gen und Zitate aus der Literatur hinzu. Als Anne Marie Schärer pensi- oniert wurde und ein «Pensionistin- nenfest» organisierte, zeigte sie ihre mittlerweile 100 Charakterköpfe erst- mals einem breiteren Publikum. Die- ses war begeistert und motivierte sie, ihr kreatives Werk in Buchform her- auszugeben. Schneller als gedacht fand sich ein Verlag, der ihr Buch «Ins Gesicht geschrieben – 100 Charakter- köpfe in Text und Bild» publizierte. Der Gang an die Öffentlichkeit for- derte Mut. In ihrem Berufsleben war Diskretion gefordert. Nun stellte sie sich mit ihren Zeichnungen und Ge- danken ins Rampenlicht. «Das musste ich erst mal lernen.» Dem Leben Struktur geben Knapp zwei Jahre Rentnerinnenleben sind seither vergangen. Als Anne Ma- rie Schärer mit 64 in Pension ging, hatte sie alle anderen Aufgaben wie ihre langjährige Tätigkeit als Vize- präsidentin der Spitex Kriens oder ihre privaten Coaching-Mandate ab- gegeben. Viele Freunde und Bekannte erteilten ihr Ratschläge für das neue Leben. Sie aber sei daran «vorbeige- schlichen» mit dem Ziel, erst mal alles loszulassen und den neuen Freiraum auszukundschaften. Sie schlief, bis sie von selbst erwachte, las interessante Zeitungsartikel sofort, statt sie für später aufzuheben. Sie erfuhr aber auch, dass mit der Aufgabe der Berufstätigkeit über den Sinn des Lebens neu nachgedacht werden muss. «Die Bedeutungslosigkeit war im Moment der Pensionierung frap- pant», sagt sie rückblickend. Nach einer ersten Phase des Expe- rimentierens gab Anne Marie Schärer ihrem Leben wieder mehr Struktur. «Für mich war es wichtig, einen Rhythmus zu finden, in dem ich mich wohlfühle.» Dabei nimmt das künst- lerische Schaffen einen wichtigen Stellenwert ein. Soeben hat sie zur Pensionierung ihres Mannes ein le- bensgrosses Wildschwein aus Beton geschaffen, welches die Wünsche «wild sein» und «Schwein haben» um den Hals trägt. So wie die Charakter- köpfe strahlt auch das Wildschwein jene schelmische Freude am Leben aus, die Anne Marie Schärer selber versprüht. Ja, sie sei ein optimisti- scher Mensch, sagt sie. «Denn das bedeutet, dass man kostenlos ganz viele Möglichkeiten erhält.» Erstaun- lich eigentlich, dass ausgerechnet der «Optimist» in ihrer Sammlung der 100 Charakterköpfe fehlt. Zeichnen mit Spiegel: Anne Marie Schärer hat sich beim Zeichnen immer wieder selber den Spiegel vorgehalten.

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