Zenit Nr. 1, März 2020

LEBENSKRAFT Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 20 13 daran zu denken, was schiefgelaufen ist und was man besser hätte machen können. Das ist ein aussichtsloser Kampf, der die Energien bindet, die Lebenskraft und Lebensfreude lähmt. Wer rückwärtsgewandt lebt, wird also nicht zufrieden? Genau. Die Vergangenheit ist eine Einschränkung, die wir nicht ändern können. Vielmehr gilt es, in sich hineinzu- schauen und sich über die negativen Gedanken und Ge- fühle bewusst zu werden, ohne auf sie reagieren zu müssen. Sich selbst mit seiner inneren Welt, den Gedanken, Gefüh- len und Empfindungen achtsam wahrzunehmen und zu beobachten. Es geht da- rum, sich nicht von den Gefühlen beherrschen zu lassen, sondern sich als IndividuumRaum zu nehmen für eigene Ent- scheidungen und be- wusstes Handeln. Das heisst, in der Gegenwart zu leben und sich zu sa- gen: Mir bleibt noch Zeit, die Zukunft so zu nutzen, dass ich am Ende meines Lebens zufrieden sein kann. Sie betonen die Bedeu- tung der Ausrichtung auf Werte. Wie ist das zu verstehen? Die Klarheit über eigene Werte und Ziele im Leben kann viel dazu beitragen, die Akzeptanz für das Vergangene zu fördern und Sinn im Leben zu fin- den. Wir entdecken unsere Werte mit folgenden Fragen: Was ist mir im Leben wichtig?Was kann ich gut?Was macht mein Leben reicher und lebenswerter? Und wie bewerkstelligt man dies am besten? Es kann helfen, in einer ruhigen Minute ein Blatt Papier zu nehmen und die persönlichen Werte aufzuschreiben und sich zu überlegen, wie wir diese Werte im persönlichen Leben umsetzen können. Nach einem Verlust müssen wir uns oft umorientieren und ein neues Ziel für unsere Werte suchen. Ich denke da zum Beispiel an einen Mann, für den es wichtig war, ein arbeitender Teil der Gesellschaft zu sein. Nach der Pensionierung fiel er in eine tiefe Krise. In der Therapie erkannte er, dass Lohnarbeit nur eine Möglichkeit ist, seinen Wert zu leben, und er durch freiwillige Arbeit weiterhin seinen Beitrag in der Gesellschaft leisten kann. Auch der Tod eines geliebten Menschen ist ein sehr schwerer Einschnitt im Leben … Mit dem Verlust bricht im Alltag die Möglichkeit weg, ge- wohnte Werte im Alltag zu leben. Das ist sehr schmerzlich. Lebenskunst würde in dieser Situation bedeuten, sich zu fragen: Wie kann ich mich meiner Werte entsprechend ver- halten, wenn ich es nicht ändern kann? Gibt es andere Ziele, in die ich meine Energie stecken kann? Wie finde ich für meine Werte neue Ziele? Wie kann ich z.B. meine in der Partnerschaft gelebte Fürsorglichkeit, die mir so wichtig ist, anders le- ben? Kann es unzufrieden machen, wenn sich ein Mensch allzu sehr an äusserlichen Din- gen orientiert, die ihm eigentlich gar nicht wichtig sind? Ja, das ist durchaus mög- lich, wenn etwa jemand gemäss seinen Werten gelebt hat und dafür keine Anerkennung und Wertschätzung bekom- men hat. Oft sehen wir etwas vom Ergebnis und nicht vom Weg her. Der Satz, der Weg ist das Ziel, gilt auch für die Werte. Wir leben die Werte nicht, um an ein Ziel zu kommen. Vielmehr geht es um den Prozess. Deshalb ist es wichtig, unabhängig vom Ergebnis nicht zu vergessen, wofür wir uns gemäss unseren Werten bemüht und engagiert haben. Inwieweit können Menschen mit Lebenskrisen selber fertig werden? Wann ist fachliche Unterstützung angezeigt? Ich möchte Menschen in einer Lebenskrise dazu aufmun- tern, nicht zu lange zuzuwarten, sondern sich fachliche Hilfe zu holen. Es muss nicht unbedingt eine Therapie sein. Auch ein Coaching kann hilfreich sein. Es ist in jeder Lebensphase, also auch imAlter, möglich, das Leben anders zu gestalten. Jeder Tag ist ein neuer Anfang. INTERVIEW: MONIKA FISCHER Zur Person Dr. med. Martin Schwarzin (1965), Psychiater und Psycho- therapeut FMH, führt seit 2012 in Luzern eine Facharztpraxis für seelische Gesundheit. Er arbeitet unter anderem mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). Diese ist für ihn mehr als eine Therapieform: Es ist eine Haltung, die alle jederzeit einüben können. www.dr-schwarzin.de

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