Pro Senectute Kanton Luzern 4 | 25 9 BIBLISCHE TRÄUME Foto: zVg erlaubten vielfältigere Formen von Gotteserfahrungen, welche sich auch durch Farben, Lichter oder Klänge ausdrücken. Frauen konnten sie möglicherweise besser beschreiben. Das ist jedoch eine gewagte Theorie, die wissenschaftlich noch nicht belegt ist. Was passiert mit den Träumen in der Reformationszeit? Die reformatorischen Bewegungen – lutherisch wie reformiert – lehnten übertriebene Frömmigkeit und mystische Erfahrungen ab. Sie konzentrierten sich vielmehr auf die Auslegung von biblischen Träumen. Im barocken Katholizismus hingegen blühten Visionen und Träume weiter. In Zeiten von Krieg, Pest und Not suchten Menschen Orte der Heilszusage Gottes. So entstand fast in jedem Dorf ein kleiner Wallfahrtsort. Auch im Kanton Luzern gibt es zahlreiche Wallfahrtsorte. Beispielsweise erschien im 16. Jahrhundert dem gichtkranken Jakob Minder in Luthern Bad im Traum die Muttergottes und gab ihm den Rat, hinter seinem Haus nach Wasser zu graben. Er tat dies und wurde geheilt. Haben also Wallfahrtstraditionen weniger mit einem Wunder als vielmehr mit dem Zeitgeist zu tun? Rückwirkend ist es schwierig, Menschen eine wunderhafte Erfahrung abzusprechen. Bemerkenswert ist, dass jemand einem Traum folgt, daraus Hoffnung schöpft und einen Wallfahrtsort begründet. Dieser Glaube und Gehorsam gegenüber einem Traum macht uns heute eher stutzig. Doch in der damaligen Zeit, als in den Predigten mit Höllen- strafen gedroht wurde, boten solche Wallfahrtsorte Sicherheit und Trost. Warum sind Wallfahrtsorte wie Einsiedeln oder Luthern Bad bis heute beliebt? Zum einen wegen der einmaligen Sakrallandschaften und der wunderschönen barocken Kirchen wie jener in Einsiedeln. Zum anderen, weil Wallfahrten lebendige Traditionen sind, die über Generationen weitergegeben werden. Und eine Wallfahrt ist auch heute eine bewusste Unterbrechung des Alltags. Wir nehmen uns einen Raum für Sinnsuche und Spiritualität. Das erklärt auch den Erfolg des Jakobswegs. Glauben Sie, dass Gott heute noch im Traum zu uns spricht wie bei Jakob oder Josef? Ja, Gottesbegegnungen geschehen heute wie damals. Sie sind überall möglich und sehr individuell. Ich erinnere mich an eine Mutter, die in einem Gottesdienst in Rom erzählte, wie ihr schwerkrankes Kind nach regelmässigen Gebeten zur Gottesmutter geheilt wurde. Ob man das Wunder nennt oder nicht – der Glaube hat dieser Familie Kraft gegeben und sie durch eine schwere Zeit getragen. Viele Menschen würden einem eigenen Traum mit Gotteserfahrung wohl nicht glauben. Bedauern Sie diese Skepsis? Nicht unbedingt. Skepsis schützt auch. Viele Traumerzählungen entstanden in Zeiten, wo man keine Erklärungsmuster mit tiefenpsychologischen Zugängen hatte. Wenn negative, angstvolle Träume immer wiederkehren, sollten wir das als Zeichen psychischer Belastung ernst neh- men und nicht als Traum in einem spirituellen Sinn ver- klären. Dennoch finde ich die Haltung von Hildegard von Bingen inspirierend. Die Universalgelehrte aus dem Mittelalter hatte zahlreiche Visionen, auch mitten im Alltag. Sie ruft uns dazu auf, der Gottesbegegnung Raum zu geben – im täglichen Leben, im Gebet oder vielleicht auch im Traum. Spielen Träume in Ihrem persönlichen Glaubensleben eine Rolle? Eine unmittelbare Gotteserfahrung im Traum hatte ich bis jetzt nicht. Ich erfahre Gott oftmals in kleinen Dingen. Beim Wandern kann der Blick in die Berge etwas sehr Kraftvolles sein. Ein Gespräch kann plötzlich eine Tiefe und Qualität annehmen, die ich rationell nicht mehr fassen kann. Das sind für mich Augenblicke der Nähe zu Gott. Gott kann überall erfahrbar sein. Herauszufinden, wo das geschieht, macht die Sache mit dem Glauben doch recht spannend, finde ich. Ausschnitt aus Marc Chagalls Gemälde «Jakobs Himmelsleiter»
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