Zenit Nr. 4. November 2025

8 Pro Senectute Kanton Luzern 4 | 25 Träume begleiten die Menschheit seit jeher. Auch im Glauben. Theologin und Kirchen- historikerin Veronika Kanf spricht über Jakobs Himmelsleiter, Josefs Engel und heutige Gotteserfahrungen im Schlaf. Und darüber, warum Skepsis und Spiritualität einander nicht ausschliessen. ASTRID BOSSERT MEIER zenit: Träume begegnen uns in der Kunst, Literatur, Musik und auch in der Bibel. Im Alten Testament träumt Jakob von einer Himmelsleiter, auf der Engel auf- und absteigen. Gott steht oben und verheisst Jakob Schutz und Land. Was sagt uns dieser Traum? Veronika Kanf: Dieser Traum ist spannend, weil er der erste ist, der in der Bibel erzählt wird, und dies sehr konkret. Jakob flieht nach einem Streit mit seinem Bruder und man könnte meinen, dass Gott und er gerade keine gute Beziehung haben. Doch das Gegenteil geschieht: Jakob erlebt im Traum eine lebendige Gottesbegegnung, spürt Gottes Zuversicht und Begleitung. Und wofür steht die Himmelsleiter? Im Hebräischen ist mit «Himmelsleiter» eher eine Treppe mit Stufen gemeint. Dieses Bild habe ich einmal mit einer Schulklasse besprochen und gefragt, wie man Gott auf dieser Treppe näherkommen kann. Die Antworten waren sehr berührend – nicht nur «beten» oder «die Gebote einhalten», sondern auch «anderen helfen» oder «Zeit mit der Familie oder den Grosseltern verbringen». So wird ein Traum aus dem Alten Testament plötzlich alltagsnah. Wie oft werden überhaupt in der Bibel Träume erzählt? Etwa 20 Mal. Hätten sie eine ganz zentrale Bedeutung, gäbe es wohl mehr davon. Dennoch: Träume markieren immer wieder Schlüsselmomente im Leben der Menschen. Beispielsweise auch im Matthäus-Evangelium, als Josef im Traum von einem Engel erfährt, dass Maria vom Heiligen Geist schwanger ist? Ja. Wie bei Jakob im Alten Testament erlebt Josef im Schlaf eine Gottesbegegnung und erhält eine Botschaft. Gott hat für ihn einen Plan, der seine Vorstellungskraft in diesem Moment komplett übersteigt. Als Theologin nehme ich aus diesem Traum mit: Wie auch immer wir unser Leben planen – Unsicherheit und Veränderungen müssen wir aus der Hand geben. Was unterscheidet einen Traum von einer Vision? Träume geschehen nachts im Schlaf. Die Nacht ist in der biblischen Sprache stets ein Ort der Gottverlassenheit. Hier sagt uns der Traum: Gott ist da, auch nachts oder wenn wir ihn in Momenten der Gottesferne nicht zu erkennen vermögen. Visionen hingegen können im Wachzustand auftreten. In der Bibel sind sie übrigens viel häufiger zu finden und auch in der Kirchengeschichte spielen sie eine grössere Rolle. Gibt es auch Gemeinsamkeiten? Ja, und das sorgt auch für Kritik: In beiden Fällen ist die Überprüfbarkeit schwierig. Schon in der Bibel gab es Diskussionen darüber, wer ein wahrer Prophet sei und wer nicht. Und das hat an Aktualität nicht verloren. Auch heute stellt sich die Frage: Wem glauben wir? Welchen «Propheten» laufen wir nach? Und wo ist unsere Kritik gefragt? Hat sich die Deutung von Träumen im Lauf der Kirchengeschichte verändert? In den ersten Jahrhunderten nach Christus wurden Träume positiv betrachtet. Mit dem Mönchstum änderte sich das. In Träumen erlebte man die Begegnung mit Dämonen und deutete sie als Versuchung, die Menschen vom Leben mit Gott fernzuhalten. Im Mittelalter wurden Visionen wich- tiger. Spannend ist, dass wir ab dem 12./13. Jahrhundert vermehrt von Frauen lesen, die Visionen haben. Visionen Was uns biblische Träume heute sagen können Veronika Kanf (27) wuchs in Dachau nördlich von München auf. Nach dem Abitur studierte sie Theologie an der Universität Regensburg. Ihr Studium schloss sie 2022 mit dem Magister (analog Master) ab. Seit 2023 ist die Doktorandin als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kirchen- geschichte an der Universität Luzern tätig. Ihre Dissertation verfasst sie zum Thema «Volksmissionen in der Schweiz».

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx