TESSINER GESCHICHTE 1 nicht akzeptierte) machte die Schweiz bis 1815 (für fast 300 Jahre!) zum Satellitenstaat Frankreichs. Das Tessin wurde in acht Vogteien unterteilt: Die Leventina hing von Uri ab, Blenio, die Riviera und Bellinzona von Uri, Schwyz und Nidwalden. Die übrigen Vogteien: Locarno, das Vallemaggia, Lugano und Mendrisio wurden von den zwölf alten Orten regiert. In vielen Tälern sieht man heute noch die stattlichen «Case dei Landvogti». In der Zeit der Reformation flohen zahlreiche reformierte Tessiner Familien nach Zürich: die von Muralt, die Pestalozzi und Orelli. 1755 erhoben sich die Leventiner gegen die Urner Vögte. Die siegreichen Urner rächten sich blutig: Auf dem Dorfplatz von Faido mussten alle Männer des Tales kniend zuschauen, wie drei der Anführer des Aufstandes enthauptet wurden. Neuere Studien bewerten die «ennetbirgischen Vogteien» weniger kritisch: Viele Tessiner waren in die Staatsverwaltung integriert, z. B. Giovanni Batista Riva, (1646–1729) Untervogt von Lugano, 1691 ins Luzerner Patriziat aufgenommen, Graf und Besitzer von Mauensee. 1798 wurde das Tessin der Helvetischen Republik angegliedert und in zwei neue Kantone aufgeteilt: Bellinzona und Lugano. Ein Luzerner als Geburtshelfer Vinzenz Rüttimann, helvetischer Regie- rungsstatthalter aus Reiden, wurde 1801 vom helvetischen Direktorium (der fünfköpfigen Schweizer Regierung) als Kommissar nach Lugano geschickt. Seine Aufgabe war, die zerrütteten Verhältnisse zu ordnen und die Grundlage für stabile Verhältnisse zu schaffen. Er verhandelte geschickt mit den zerstrittenen Eliten von Bellinzona und Lugano. Eine Versammlung von Tessiner Abgeordneten beauftragte ihn sogar, das Tessin in der «Consulta von Paris» zu vertreten. Napoleon hatte nämlich fünf Unitarier und fünf Föderalisten zu einer Friedenskonferenz (Consulta) nach Paris eingeladen. Er duldete keine Unter- tanenländer mehr. Rüttimann setzte sich für einen selbstständigen Kanton Tessin ein und sicherte sich damit «la gratitudine del popolo del Ticino». Dank Napoleons «Mediationsakte» von 1803 kamen neben dem Tessin auch Waadt, Aargau, Thurgau, St. Gallen und Graubünden als selbstständige Kantone zur Schweiz. Die Tessiner übernahmen sogar zwei Farben aus der «Tricolore» als ihr neues Kantonswappen: rot und blau. Napoleon hatte erkannt, dass die Schweizer sich nicht für den Zentralismus eigneten: «Die Natur hat euch zu Föderalisten gemacht. Die Natur zu besiegen, versucht kein vernünftiger Mann.» Somit wurde Napoleon zum Geburtshelfer der modernen, föderalistischen Schweiz. *Dr. phil. Walter Steffen (*1945) unterrichtete Geschichte, Italienisch und Englisch an den Lehrerseminarien Luzern und Hitzkirch und leitet Exkursionen von Pro Senectute Luzern. Nächste Folge: Tessiner Geschichte II, 1803 bis heute Vinzenz Rüttimann (1769–1844), Luzerner Schultheiss und als «Land- ammann» 1808 höchster Schweizer. Bild: Castelllo Grande, Bellinzona. FotosAdobe Stock
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