RUBRIK Pro Senectute Kanton Luzern 3 | 25 29 WAS MACHT … Aufgewachsen in Zell, schätzt Sr. Annelis Kurmann (78) ihr viel- fältiges Leben. Sie war Mathe- matik- und Physiklehrerin am Lehrerinnenseminar Baldegg, im Tschad baute sie Spontan- schulen auf, leitete als erste Frau die bischöfliche Kanzlei in Solo- thurn, arbeitete als Seelsorgerin in Weinfelden und in der Administration des Bildungshauses Hertenstein. Mutig war auch ihr Eintritt ins Kloster mit 22 Jahren. «Auf der Suche nach einer sinnvollen Lebensgestaltung war ich fasziniert von Jesus und seinem Wirken für die Menschen gemäss dem Evangelium. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war in der katholischen Kirche eine Zeit des Aufbruchs. Beim Lesen der Bibel fand ich meinen Weg. Dieser stimmt auch nach 56 Jahren noch», hält sie überzeugt fest. Nach dem Studium der Mathematik, Physik, Minera- logie («Die Welt der Kristalle ist mein Hobby») und Geografie an der Uni Freiburg unterrichtete Sr. Annelis die ersten beiden Fächer am Lehrerinnenseminar Baldegg. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem exponenziellen Wachstum der Weltbevölkerung und mit der damit verbundenen Ernährungsproblematik weckte in ihr der Wunsch, sich in einem Entwicklungsland zu engagieren. Im französischsprachigen Tschad war sie erschüttert von der grossen Armut und der hohen Analphabetismus- rate. Um den Kindern eine Tagesstruktur und minimale Kenntnisse im Lesen zu vermitteln, baute sie in einer ab- gelegenen Region pragmatisch 16 Spontanschulen für je 40 bis 60 Kinder auf. Daneben war sie für die Verwaltung von Material und Geld und für das Personal des einfachen Spitals der Missionsstation verantwortlich und erzählt: «Die dabei gewonnenen Erfahrungen zeigten mir, dass ich mich schnell in eine völlig neue Situation einleben kann.» Als Frau akzeptiert und ernst genommen Im Busch erreichte sie ein persönlicher Brief von Bischof Otto Wüst mit der Anfrage, das Amt als erste Kanzlerin des Bistums Basel zu übernehmen. Nach langem Nachdenken in Exerzitien und bei Gesprächen mit verschiedenen Menschen sagte sie zu. 14 Jahre (1988–2002) leitete sie die bischöfliche Kanzlei in Solothurn. Dies war eine eigentliche Management-Aufgabe. Sie führte die Agenda und schrieb Briefe und Protokolle für die Bischöfe Otto Wüst, Hansjörg Vogel und Kurt Koch, hatte Einsitz im Bischofsrat und bei Verhandlungen mit den Pfarreien. «Ich war mittendrin in den Geschäften der Kirche, wurde als Frau akzeptiert, konnte mitplanen und mitgestalten. Die Zeit des Aufbruchs in der Kirche war verbunden mit viel Hoffnung und Erwartung», freut sie sich rückblickend über ihre verantwortungsvolle Aufgabe mit vielen interessanten Einblicken und guten Beziehungen. Umso mehr bedauert sie, dass die Kirche im Zusammenhang mit der Individualisierung und durch eigenes Verschulden ihre Bedeutung in der Gesellschaft eingebüsst hat, und betont: «Es liegt heute am persönlichen Entscheid des einzelnen Menschen, damit er den Glauben an Gott als etwas Tragendes erfahren und die Sakramente der Kirche als Stärkung erleben kann.» Nach dem Rückzug aus Solothurn leistete sie bis 2003 Pfarreiarbeit in Weinfelden und arbeitete ab 2012 bis zur Aufgabe des Bildungshauses «Stella Matutina» bei den Baldegger Schwestern in Hertenstein. Sie war Co-Leiterin der Administration und schätzte die Begegnungen mit den Gästen. Seit 2023 wohnt Sr. Annelis mit 140 meist betagten Schwestern im Mutterhaus des Klosters Baldegg, wo der Alltag durch Gebetszeiten und Arbeit strukturiert ist. Da je- de Kraft gefragt ist, arbeitet sie an vier Vormittagen pro Woche am Empfang der Klosterherberge, einer «Haltestelle fürs Leben» mit Wohnungen, diversen Veranstaltungen und dem Klosterkafi, und hält fest: «Wenn ich auf mein Leben mit vielen spannenden Aufgaben zurückblicke, spüre ich, wie ich geführt wurde und wie dankbar ich dafür bin.» TEXT UND FOTO: MONIKA FISCHER Viel gewagt, viel gewonnen Schwester Annelis Kurmann stört es nicht, heute als Klosterfrau eine Exotin zu sein und geniesst den Lebensabend im Mutterhaus des Klosters Baldegg.
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