Zenit Nr. 2, Juni 2022

Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 22 15 FREIWILLIGENARBEIT Freiwillige laufen Gefahr, ausgenutzt zu werden. Das sagt Judith Limacher (52), die als langjährige Sitznachtwache genau diese Erfahrung machen musste. Heute leistet sie bewusst keine ehrenamtliche Arbeit mehr. Immer wieder setzte sich Judith Limacher an ihrem Wohnort Zell als Freiwillige ein: an der Kinderfasnacht, beim «Znünimärt», als Schwimmhilfe, im Elternrat… Zudem engagierte sie sich während sieben Jahren einmal wöchentlich als Sitznachtwache. Erst ohne Entgelt in einem Altersheim, später mit einer kleinen Entschädigung in einem Spital. Die Motivation der Fotografin, kaufmännischen Mitarbeiterin, Therapeutin und Mutter von sechs erwachsenen Kindern: «Uns geht es gut. Statt eine Institution finanziell zu unterstützen, wollte ich anderen Menschen meine Zeit schenken.» Zuerst lag der Fokus der Sitznachtwache in der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen. «Obwohl es auch damals schwierige Situationen gab, kam ich oft nach Hause und fühlte mich genährt von dem, was ich mit den Menschen in ihrer letzten Lebens- «Ich empfand die Freiwilligenarbeit als unfair» phase erleben durfte.» Nach und nach wurde Judith Limacher aber auch für unruhige, verwirrte Patienten oder für Menschen mit Demenz eingesetzt. Manchmal wurde sie beschimpft und eine Viertelstunde später wieder umarmt. Für diese anspruchsvolle Aufgabe wäre aus ihrer Sicht eigentlich professionelles Personal nötig gewesen. Trotzdem hielt sie durch. Eines Tages realisierte sie jedoch, dass es bei der Entschädigung der Sitznachtwachen erhebliche Differenzen zwischen «Studierenden» und «Ehrenamtlichen» gab. Als sie das Thema an der monatlichen Planungssitzung ansprach, stiess sie selbst bei anderen Freiwilligen auf Unverständnis. Es gehe ihr wohl nur ums Geld, wurde argumentiert. «Doch ich fühlte mich ausgenützt und wollte nicht mithelfen, ein ungerechtes System zu stützen.» So entschied sich Judith Limacher, ihre Freiwilligenarbeit zu beenden. Noch heute, vier Jahre später, kommen Empörung und Wut hoch. Nicht nur über andere, auch über sich selbst: «Ich habe das mit mir machen lassen. Ich habe sogar zusätzliche Nächte übernommen, wenn niemand anders einspringen konnte oder wollte. Mein grosses Herz ist zugleich meine Schwachstelle.» Vorläufig will Judith Limacher keine Freiwilligenarbeit mehr leisten. Ist das nicht egoistisch? Die 52-Jährige überlegt lange, sagt dann: «Es ist ein positiver Egoismus. Wenn ich Nein sage nach aussen, ist es ein Ja zu mir.» Sie anerkenne, dass Freiwilligenarbeit bereichernd sein könne. Doch sei auch das Gegenteil möglich. «Gute Freiwilligenarbeit findet dann statt, wenn man nicht nur gibt, sondern auch selbst auftanken kann.» Fühle man sich nach einem Einsatz jedoch ausgelaugt, ausgenützt, sollte man sein Tun hinterfragen. Judith Limacher sagt zwar, sie leiste keine ehrenamtliche Arbeit mehr. Doch dann erzählt sie von Situationen, in denen sie anderen ihr Ohr schenkt. «Ich frage Menschen nur dann nach ihrem Befinden, wenn ich Zeit habe, zuzuhören», erklärt sie. «Und wenn jemand erzählt, höre ich wirklich zu.» Also doch Freiwilligenarbeit? «Ich weiss nicht, ob das Freiwilligenarbeit ist», entgegnet Judith Limacher. «Ich nenne es Menschlichkeit.» ASTRID BOSSERT MEIER CONTRA

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